Weißes Gold in Wißmar
„Es ist so schön, aber irgendwie habe ich das noch gar nicht realisiert“, verriet die Künstlerin Anne Horz freudestrahlend am Sonntagabend, 28. April 2024, in St. Raphael in Wißmar. Viele Monate hatte die aus Mengerskirchen stammende Kunststudentin an ihrer Examensarbeit getüftelt, akribisch Details ausgearbeitet und mit viel handwerklichem Geschick umgesetzt. Nun drängten sich mehr als 120 Besucherinnen und Besucher im Kirchraum. Sie erlebten eine beeindruckende Vernissage der Ausstellung „REMEMBER“ und hatten ausreichend Gelegenheit, mit der Künstlerin ins Gespräch kommen.
Throw back
Die 24-Jährige präsentiert zwei raumgreifende Installationen, die sich in den Kirchraum einschmiegen, als seien sie extra hierfür geschaffen worden. Bei der Installation mit dem Titel „Throw back“ handelt es sich um mehr als 100 Keramik-Kugeln, die im Raum hängend filigrane, verzweigte Linien bilden. Mit diesen Kugeln zeichnet Anne Horz die schicksalhaft letzte Autofahrt eines engen Freundes nach, der tödlich verunglückte. Die schwarz-weißen Keramikkugeln markieren den topografischen Raum der Fahrt entlang des Wegverlaufs und des Höhenprofils. Zu sehen ist so eine räumliche Spur, die Besuchende aus je unterschiedlichen Perspektiven durchschreiten, erleben und begreifen können und die zugleich eine Spur des Erinnerns und Gedenkens ist.
Baubude
Um Erinnerungen und ihre Lebendigkeit im Jetzt geht es auch bei der zweiten Installation: „Baubude“. Hierfür hat Anne Horz eine alte Holzhütte in der Kirche neu aufgebaut. Es handelt sich um eine Hütte, die in Horz‘ Familie als Baubude bekannt ist. Im Jahr 1994 hat sie ihr Großvater Paul Gotthardt in Dortmund aufgebaut, während er dort Baustellenleiter auf Montage war. Auf der Baustelle wurde sie als Lagerhütte genutzt. Als sie dort nicht mehr gebraucht wurde, fand sie in Mengerskirchen eine neue Bestimmung: denn dort bauten die Eltern der Künstlerin ein Haus. In der Bude wurden Werkzeuge gelagert. Später verbrachten die Kinder unzählige Stunden voller Abenteuer in ihrem hölzernen Refugium. Im vergangenen Jahr sollte die Bude endgültig abgerissen werden, ihre morschen Bretter wären sicher gutes Feuerholz. Die Künstlerin erkannte aber den einzigartigen Wert der Baubude. „Ich spürte, dass dieses Material etwas ganz Besonderes in sich speichert und damit wollte ich mich beschäftigen und diese Dinge biografisch erforschen“, so Anne Horz.
Weißes Gold
Aus diesem Gefühl entstand die Idee der künstlerischen Konfrontation. Hierfür hat die Mengerskirchenerin Werkzeuge, die früher in der Holzhütte lagerten, aus Porzellan nachgeformt. Diese durchscheinend-weißen, glänzend-glatten Porzellan-Werkzeuge hängen an den Wänden der Hütte und bilden einen lebendigen Kontrast zur rauen Holzstruktur der Bretter. Der handwerkliche Umgang mit Porzellan ist schwierig und wie kaum ein anderes Material braucht es außergewöhnliches Geschick und eine hohe Frustrationstoleranz. „Einige Werkzeuge sind schon in der Gipsgussform zerbrochen oder später beim Brennen“, gestand die Künstlerin. Das Material, das früher als „weißes Gold“ ausschließlich aristokratischen Kreisen vorbehalten war, hat wegen seiner außerordentlichen Härte und Isolierfähigkeit längst Einzug in unseren Alltag gefunden. Dennoch bleibt Porzellan auch filigranes Luxusgut.
Transformation
In seiner Eröffnungsrede hob Prof. Dr. Ansgar Schnurr, Professor für Kunstpädagogik an der Universität Gießen, die Beziehung von Erinnerung und Wandlung hervor. Dinge, an die man sich aus der Kindheit erinnert, scheinen in der Gegenwart und aus heutiger Perspektive viel kleiner. Auch Porzellan schrumpft um 20 Prozent im Prozess der Entstehung. Es verformt sich, es reißt mitunter und zeigt damit die Spannungen auf, die es im Lauf der Transformation auszuhalten hatte. Diese Zerbrechlichkeit ist Sinnbild für die flüchtigen Erinnerungen der Kindheit, die bewahrt und geschützt werden wollen. Dabei ist Erinnerung kein klares Arsenal, das unverrückbare Wahrheit widerspiegelt. Vielmehr ist Erinnerung ein fortdauerndes Geschehen, das durch Erzählung und Wiedererzählung angereichert und mitunter rekonstruiert wird.
Gestern und Heute
Mit bewegenden Dankesworten schaffte auch Anne Horz den Bogen ihrer eigenen Erinnerungen hin zu den Ausstellungsgästen und ihren je eigenen Geschichten. Die bezaubernden Installationen gaben Anlass für vielfältige Gespräche der zahlreichen Anwesenden über die Vergänglichkeit des Lebens, eigene Erinnerungen und ihre Beziehung zur Gegenwart. Besonders freute sich der Großvater von Anne Horz: „Dass meine Baubude mal in einer Kirche steht, das hätte ich nicht gedacht. Und es freut mich ganz besonders!“, sagte Paul Gotthardt mit sichtlichem Stolz und leuchtenden Augen über das Werk seiner Enkelin, das so viele Menschen zusammen und ins Nachdenken bringt.
Öffnungszeiten
Die Ausstellung im Rahmen des Projektes „Luft nach oben“ ist täglich vom 29.04.2024 bis 08.06.2024 von 15 bis 20 Uhr geöffnet. Finissage ist am 08.06.2024 um 18 Uhr. Eintritt frei.
Die Ausstellung wird ermöglicht mit Unterstützung der Katholischen Erwachsenenbildung Limburg und Wetzlar, Lahn-Dill-Eder (KEB).
Hintergrund:
Die Ausstellung ist eingebettet in das Projekt „Luft nach oben“ in der Kirche St. Raphael in Wißmar. Neben dem üblichen Gottesdienstgeschehen werden in dem Kirchengebäude Spielcafés angeboten, Ausstellungen gezeigt oder Kleidertauschpartys organisiert. „Kirchenräume sollten dem ganzen Leben, der Vielfalt und den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen Raum bieten. Genau dafür öffnen wir unser Kirchengebäude in Wißmar“, sagt Edwin Borg, einer der Projektleiter. Weitere Informationen zum Kirchenraumprojekt gibt es hier: sankt-anna-biebertal.de/thema/luft-nach-oben/