Europa fehlt der Horizont
Die tiefen sozialen und politischen Krisen in vielen westlichen Ländern verlangen eine Umkehr und eine neue Vision für Europa. Darauf hat der Bischof von Belley-Ars in Frankreich, Pascal Roland, am Samstag, 26. Januar, im überfüllten Frankfurter Kaiserdom hingewiesen. In seiner Predigt zum traditionellen Karlsamt zu Ehren Karls des Großen stellte Roland fest, die heutigen Gesellschaften drehten sich im Kreis und suchten einen Ausweg, doch fehle der Horizont. Egoismus und Individualisierung führten zum Verlust sozialer Bindungen. Viele Menschen zeigten kein Interesse mehr an Europa, sie könnten den Wert der europäischen Einigung nicht mehr erkennen.
Die Christen, so Roland, müssten zeigen, „was es heißt aus dem Evangelium heraus zu leben“, sie müssten umkehren, denn Christus sei ein „ausgezeichneter Kompass“. Die Einheit sei ein Geschenk Christi: „Wenn wir unsere Armut anerkennen, unsere Blindheit akzeptieren, dann werden wir unserer gemeinsamen Berufung in Europa treu sein.“
Das traditionelle Karlsamt im Frankfurter Kaiserdom zu Ehren Karls des Großen ist in jedem Jahr Anlass, Einblick in eine andere europäische Diözese zu gewinnen. Den diesjährigen Gast Pascal Roland (68) hatte Papst Johannes Paul II. 2003 zum Bischof von Moulins ernannt, 2012 übernahm er im Auftrag von Papst Benedikt das Bistum Belley-Ars im Großraum Lyon in Frankreich.
Armut der Kirche als Chance begreifen
Am Nachmittag hatte Bischof Roland im Domgespräch mit Akademiedirektor Joachim Valentin darauf hingewiesen, dass es für die katholische Kirche in Frankreich eine Chance sei, arm zu sein. In Frankreich sind Staat und Kirche streng getrennt, eine Kirchensteuer zur Finanzierung der pastoralen Arbeit gibt es nicht. Diese Armut fördere das Engagement der Priester und Ehrenamtlichen: „Wer selbst in Armut lebt, wendet sich den Armen stärker zu“, betonte der Bischof, „Reiche brauchen andere Menschen nicht.“ Die deutsche Kirche sei „noch zu reich“, sagte er, zwar mit einem Schmunzeln, aber doch in ernster Absicht.
Zum Bistum Belley-Ars im Großraum Lyon gehört der Heimatort des weltweit verehrten heiligen Pfarrers von Ars, Jean-Marie Vianney, der als bescheidener und armer Priester zum Patron aller Pfarrer wurde. Ars sei bis heute ein Hoffnungsort, denn Vianney (1786-1859) sei es gelungen, die Menschen, die sich nach der Französischen Revolution von der Kirche abgewandt hatten, in großer Zahl für den Glauben zurückzugewinnen: „Es ist also möglich, den Glauben wiederzubeleben“, betonte Roland.
Wenn wir unsere Armut anerkennen, unsere Blindheit akzeptieren, dann werden wir unserer gemeinsamen Berufung in Europa treu sein
Bischof Pascal Roland, Belley-Ars
Das Karlsamt ist eine Frankfurter Besonderheit
Zum Todestag Karls des Großen erinnert die katholische Stadtkirche Frankfurt alljährlich mit dem Karlsamt an den Gründervater Europas, der auch Patron der Stadt und des Kaiserdoms ist. In dem farbenprächtigen Gottesdienst, zu dem traditionell auch Vertreter der Ritterorden in den Dom einziehen, erklingen mittelalterliche lateinische Gesänge wie die Karlssequenz, ein Lobgesang auf Kaiser und Stadt, und die Kaiserlaudes, in der Huldigungsrufe an Christus mit Bittrufen für Kirche, Papst, Bischof, das deutsche Volk und alle Regierenden verbunden werden.
Karl der Große gilt als Gründer Europas nach dem Ende des römischen Imperiums. Er starb am 28. Januar 814. Im Jahr 794 hatte er eine Reichssynode nach Frankfurt berufen und so für die erste schriftliche Erwähnung der heutigen Main-Metropole gesorgt. Seit mehr als 600 Jahren gedenken die Frankfurter Katholiken immer am letzten Samstag im Januar dieses „Vaters des Abendlandes“ und beten für eine gute Zukunft Europas.
Kaum eine Persönlichkeit hat Europa im frühen Mittelalter so geprägt wie Karl der Große. Er gilt in der Geschichtsschreibung bis heute als großer Politiker und geistiger Vordenker eines vereinten Europas, als Stratege und Reformer der Verwaltung, aber auch als Machtmensch und Unterdrücker. Mit einer umfassenden Bildungsreform und der Schaffung von verbindlichen wirtschaftlichen Vorschriften legte er wichtige Grundsteine für die Entwicklung Mitteleuropas im Mittelalter. Sein Reich konnte er aber nur durch gleichermaßen geschickte wie rücksichtslose Machtpolitik aufbauen.