19.11.2015
Der Verletzlichkeit Raum geben
WIESBADEN. - „Eine Kultur der Achtsamkeit“ hat die Palliativmedizinerin Dr. Petra Kutscheid auf dem Ethiksymposium im St. Josefs-Hospital gefordert. Wenn in der Gesellschaft der Verletzlichkeit und Bedürftigkeit des Menschen mehr Raum gegeben werde, liege darin für alle eine große Chance, sagte die leitende Ethikerin der Dernbacher Gruppe Katharina Kaspar am Mittwoch, 18. November, in Wiesbaden. Die Debatte zur Sterbehilfe ? in diesem Jahr Thema des Symposiums - sei auch mit dem neuen Gesetz nicht abgeschlossen, hatte eingangs der Chefarzt des Hauses, Dr. Bernd Oliver Maier, prognostiziert. Der große Andrang bestätigte das. Klinikseelsorger Pfarrer Klaus Krechel konnte zu der Veranstaltung über 100 Zuhörer begrüßen, darunter Ärzte, Mitarbeiter von Hospizeinrichtungen, Ordensschwestern, Seelsorger und Pflegende.
Würde des letzten Lebensabschnitts
Alle Menschen wollten in Würde sterben, sagte Dr. Kutscheid, wobei für sie der Begriff der Würde aber keine Auslegungssache sei, sondern im Sinne der christlichen Lehre Wesensmerkmal des Menschen und zugleich Gestaltungsauftrag. Wenn Freiheit und Selbstbestimmung eingeschränkt seien oder verloren gingen, erachteten sich Menschen oft nicht mehr als würdig, zumal in der Gesellschaft nur das „starke Subjekt“ favorisiert werde, das mit Krankheit nicht vereinbar sei. Eindrücklich plädierte die Medizinerin stattdessen dafür, auch den letzten Weg, den letzten Abschnitt des Lebens, als würdevoll anzusehen und dementsprechend zu begleiten. In der Begegnung eröffne sich dabei für alle Beteiligten die Chance, „aus der Eingeschlossenheit unseres Lebens heraus zu kommen“.
Extremfall nicht zum Normalfall machen
Professor Josef Schuster, Moraltheologe an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, bezog sich in seinen Ausführungen auf das neue Sterbehilfegesetz. Wenn es eine rechtliche Möglichkeit für einen ärztlich assistierten Suizid gebe, kämen Menschen auch mit diesem Anspruch auf Ärzte zu und setzten sie unter Druck. Das könne eine Entwicklung in Gang setzen, in der sich auf Hilfe angewiesene Menschen für ihr Leben und ihr Weiterleben rechtfertigen müssten. Schuster räumte ein, dass es Extremfälle gebe, aber diese dürften nicht zum Normalfall gemacht werden. Er unterschied dabei Leiden und Schmerzen und sagte: „Leiden verlangt Begleitung“ und Mitleiden bedeute mitgehen und nicht beenden.
Entwicklung zum perfekten Menschen
In den Beneluxländern sei mit der Euthanasie eine Tür geöffnet worden, die nicht mehr geschlossen werden könne, sagte der Neurologe, Psychotherapeut und Palliativmediziner Dr. Robert Thill-Heusbourg, Gründungsmitglied der Bürgerinitiative gegen das Euthanasiegesetz Luxemburg. Damit werde das soziale Gewebe der Gesellschaft zerstört. Deutschland sei dagegen durch die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus noch ein bisschen „geimpft“, meinte er. Durch die Entwicklung zum perfekten Menschen gewinne die Euthanasie allerdings überall mehr und mehr an Raum. Dem müsse eine Offenheit für das Unerwartete entgegen gestellt werden.
Palliativmedizin ausbauen
In der abschließenden Diskussionsrunde waren sich alle Beteiligten einig, dass der Ausbau der Palliativmedizin weiter vorangetrieben und die öffentliche Auseinandersetzung über diese Fragen weiter gehen müsse. Hinter von Kranken geäußerten Sterbewünschen stecke eine große Not, „die wir als Herausforderung und Aufgabe begreifen“, sagte Dr. Maier und griff damit die von Professor Schuster vorgebrachte Forderung auf: Einrichtungen im Bereich der Kranken- und Altenhilfe, die in kirchlicher Trägerschaft seien, sollten in der Frage der Begleitung von Sterbenden „eine Leuchtturmfunktion“ einnehmen. (rei)