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Limburg, 11.10.2023

„Seien Sie wachsam“

Erinnerung, die begleitet: Mehr als 1.000 Schülerinnen und Schüler hatten Anfang Oktober im Limburger Priesterseminar Gelegenheit, mit Holocaust-Überlebenden in Kontakt zu kommen und ihre Geschichte zu hören.

„Wir können über unsere Erfahrungen nur sprechen, aber Sie sind jung. Sie können etwas tun und wachsam sein, damit sich die Geschichte nicht wiederholt“, appellierte Henriette Kretz am Freitag, 6. Oktober, an die Schülerinnen und Schüler im Limburger Priesterseminar. Kretz ist Überlebende des Holocausts und eine von insgesamt sechs Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in der ersten Oktoberwoche im Rahmen des Zeitzeugenprojektes im Bistum Limburg über ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges berichteten. Vor mehr als 1.000 Schülerinnen und Schülern aus verschiedenen Schulen der Region sprachen Inge Auerbacher, Mieczysław Grochowski, Anna Janowska-Cioncka, Henriette Kretz, Kurt Salomon Maier und Pfarrer Michail Sklodowski über ihre persönlichen Erinnerungen, zeigten Fotos und kamen ins Gespräch mit den jungen Menschen. 

Wie war das damals?

Am Freitagvormittag kamen etwa 200 Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern ins Priesterseminar. „Wir sind gespannt zu erfahren, wie das Leben damals war: Wie waren die genauen Lebensumstände? Wurde man von seiner Familie getrennt?“, beschrieben Sahim und Alicia, beide 18 Jahre, sowie Philipp, 17 Jahre, von der Friedrich-Dessauer-Schule in Limburg ihre Erwartungen im Vorfeld der Veranstaltung. „Wir bearbeiten den Zweiten Weltkrieg gerade als Thema im Unterricht“, berichtete die 18-jährige Lara von der Tilemannschule. Von den Zeitzeugnissen erhoffte sie sich, den Unterrichtsstoff lebendiger werden zu lassen. „Ich bin gespannt, ob man solche Erlebnisse verarbeiten kann“, so die Schülerin weiter.

Angst als ständiger Begleiter

In insgesamt fünf Räumen berichteten die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über ihre persönlichen Lebensgeschichten: über Flucht und Vertreibung, das Leben im Konzentrationslager (KZ) und Ghetto, den Verlust von Familienangehörigen, die ermordet wurden oder aufgrund von Hunger und Krankheiten starben und von der Angst, die während der Zeit des Nationalsozialismus ihr ständiger Begleiter war. „Wir hatten immer Angst“, antwortete der Zeitzeuge Kurt Salomon Maier auf die Frage eines Schülers. „Es war eine einsame Zeit für Juden in Deutschland. Eine Zeit von Angst, Furcht und nichts anderem.“ Maier wuchs mit seinen Eltern Charlotte und Siegfried Maier sowie seinem jüngeren Bruder Heinz in Kippenheim im Schwarzwald auf, wo er auch die Pogromnacht 1938 erlebte. Als Zehnjähriger wurde er in das Internierungslager Gurs in Frankreich deportiert. Durch die Hilfe von Verwandten in Texas gelang ihm schließlich die Flucht nach Amerika. 

Zwei digital-interaktive Zeitzeugnisse

Im Gegensatz zu den meisten anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen war Maier an diesem Vormittag nicht selbst in Limburg vor Ort. Er und die Zeitzeugin Inge Auerbacher berichteten digital-interaktiv über ihre Erlebnisse. Sie sind Teil des Projektes „Aus der Vergangenheit lernen für die Gegenwart“, im Rahmen dessen die Deutsche Nationalbibliothek gemeinsam mit der USC Shoah Foundation Interviews mit Holocaust-Überlebenden geführt hat. Ziel des Projektes ist es, die Zeitzeugnisse für die nächsten Generationen zu erhalten. Neben den Berichten über Erlebtes ist dabei auch eine Interaktion möglich. Die Schülerinnen und Schüler konnten Maier und Auerbacher, ähnlich wie bei den live anwesenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Fragen stellen. „Bei der Antwort hatte ich das Gefühl, als ob ich direkt mit einem Menschen spreche“, berichtete die 15-jährige Shanti von der Heinrich-Roth-Schule in Montabaur.

Erfahrung, die begleitet

Für Marc Fachinger vom Zeitzeugenprojekt des Bistums sind die Begegnungen der jungen Menschen mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ein wichtiger Beitrag der Erinnerungskultur. „Sie beinhalten eine Vielzahl von Facetten. Die Zeugnisse spiegeln Zeit- und Familiengeschichte. Es geht um Erinnerung aber auch um Versöhnung und den Umgang mit Hass“, sagte Fachinger. „Auch wenn ich das Thema kannte, ist es etwas anderes, persönlich von konkreten Schicksalen zu hören“, fasste der 18-jährige Samuel von der Tilemannschule seine Eindrücke des Vormittages zusammen. Beeindruckt von der Begegnung zeigten sich auch die 19-jährige Meryem und die 18-jährige Zehra von der Friedrich-Dessauer-Schule: „Wir wollen von unseren Eindrücken des Tages weitererzählen und fühlen uns privilegiert, heute im demokratischen Deutschland zu leben.“

„Lassen Sie sich warnen“

Vom Umgang mit Hass berichtete der 1939 in Pommern geborene Zeitzeuge Mieczysław Grochowski. Als Vierjähriger wurde er mit seiner Familie in das Internierungs- und Arbeitslager Potulice verschleppt und erlebte dort menschenunwürdige Lebensbedingungen, Hunger, Krankheit und Angst vor Bestrafung. Sein Vater starb im Konzentrationslager. Seine Mutter sei sein großes Vorbild gewesen, sagte Grochowski. „Sie hat uns gelehrt, in die Zukunft zu blicken und nicht in der Vergangenheit zu leben. Sie hat in uns Kindern den Hass bekämpft“, so der Zeitzeuge.
„Wir haben ein großes Geschenk bekommen, das Leben“, erklärte die Zeitzeugin Henriette Kretz. Sie betonte, dass jedes Leben schützenswert sei und Respekt verdiene. „Lassen Sie sich warnen“, wandte sich die Zeitzeugin an die Schülerinnen und Schüler. „Lassen Sie sich nie von einer Diktatur oder einer extremistischen Partei verführen. Sie haben Ihre eigenen Gedanken und Vorstellungen. Lassen Sie sich nicht durch Politiker bevormunden, die Ihnen das Denken abnehmen wollen.“

Das Zeitzeugenprojekt im Bistum Limburg organisiert seit 2018 Begegnungen zwischen Überlebenden der Shoah und Schülerinnen und Schülern. Ziel ist es, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen, durch die Berichte aufzuklären und die Zuhörerinnen und Zuhörer zu motivieren, sich für eine friedliche Zukunft einzusetzen. Organisiert wird das Zeitzeugenprojekt vom Leistungsbereich Pastoral und Bildung im Bischöflichen Ordinariat Limburg in Kooperation mit dem Maximilian-Kolbe-Werk und Pax Christi. Die Zeitzeugenwoche wurde finanziell gefördert durch die Stiftung Erinnerung Verantwortung und Zukunft (EVZ), die Partnerschaft für Demokratie Limburg (PfD LM) vom Bundesprogramm „Demokratie leben“ sowie die Renate-Strömbach-Stiftung Limburg. Weitere Informationen gibt es online unter https://zeitzeugen.bistumlimburg.de/.

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