WIESBADEN, 17.03.2019
Antisemitismus geht uns alle an
Antisemitismus ist ein Angriff auf die gesamte Gesellschaft und geht alle etwas an: Das hat der Präsident des hessischen Landtags, Boris Rhein, anlässlich der festlichen Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit am Sonntag, 17. März, in Wiesbaden betont. Als Bürger dieses Landes und als Vertreter der ersten Gewalt beschäme und schmerze es ihn, dass der Judenhass gerade in Deutschland wieder verstärkt seine „hässliche Fratze“ zeige, sagte Rhein und erklärte: „Wir wollen und wir dürfen das nicht dulden.“ Die traditionelle Veranstaltung im Landtag stand in diesem Jahr unter dem Motto „Mensch, wo bist Du? – Gemeinsam gegen Judenfeindschaft.“
Plädoyer an die Zivilgesellschaft
Dass Antisemitismus nicht das Problem der jüdischen Minderheit sei, hatte eingangs bereits die Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) , Mechthild Kratz, in ihrer Begrüßung hervorgehoben und mit einem Plädoyer an die Zivilgesellschaft und jeden Einzelnen für ein entschiedenes Dagegenhalten verbunden. Wissen vermitteln über jüdisches Leben und jüdische Kultur und Begegnungen ermöglichen, das bezeichnete sie als Anliegen der GCJZ, die bereits zum 37. Mal die Woche der Brüderlichkeit veranstaltete. „Wir können uns glücklich schätzen“, so Kratz, dass es in Wiesbaden eine große jüdische Gemeinde gibt, die Teil der Stadtgesellschaft ist.“
Überstrapazierter Begriff von Toleranz
Als deren Vorstand verwies Dr. Jacob Gutmark in seinem Grußwort auf die vielen „subtilen Formen von Judenfeindschaft“, die vermehrt an die Oberfläche träten. Die Symptome seien in allen Bevölkerungsschichten und im politischen Spektrum zu beobachten. Dazu gehöre der Unwille, auf Stereotypen zu verzichten und sich Vorurteile ausreden zu lassen. Es sei für Juden schwer, „sich daran zu gewöhnen“, meinte Gutmark und übte Kritik an einem „ein bisschen überstrapazierten Begriff von Toleranz“ und mancherlei „Betroffenheitsritualen“. Als Hoffnungszeichen wertete er die Berufung von Felix Semmelroth zum ersten Antisemitismusbeauftragten des Landes Hessen.
Versöhnung mit den älteren Brüdern
Bis in den Kirchen eine der Wurzeln des Antijudaismus benannt und zumindest theologisch korrigiert worden sei, habe es Jahrzehnte gebraucht, räumte der evangelische Dekan Dr. Martin Mencke ein. Er zitierte Papst Johannes Paul II., der 1986 im Blick auf die Juden von einer „Versöhnung mit den älteren Brüdern“ gesprochen hatte. Angesichts zunehmend antisemitischer Tendenzen müsse die Frage „Wo bist Du, Mensch?“ als Weckruf verstanden werden. Ein energisches „Zusammenstehen für eine tolerante und friedliche Gesellschaft“ forderte in seinem Grußwort auch Bürgermeister Oliver Franz, der mit Verweis auf den Aufschwung rechtspopulistischer Parteien nüchtern feststellte: „Antisemitismus ist in ganz Europa nach wie vor Realität.“
Mensch, wo bist Du? Hier! Wir sind hier!
Antisemitismus ist nie verschwunden
Dieser Diagnose schloss sich der Hauptredner des Vormittags, Professor Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland, an. Antisemitismus sei sowieso nie verschwunden gewesen, jetzt aber verstärkt wahrnehmbar: In der öffentlichen Diskussion wie zum Beispiel in der Debatte um die Beschneidung, in Übergriffen auf Einrichtungen und Personen, in der Schändung von Grabsteinen oder in einer Israelkritik, die antisemitische Ressentiments befördere. Als Aspekte in diesem Zusammenhang benannte Kiesel, wie bereits seine Vorredner, die Einwanderung von Menschen aus Ländern, in denen der Hass auf Israel Staatsräson sei, ebenso wie links- und rechtspopulistische Strömungen. Deutliche Worte fand er für die AFD, deren Hetze gegen Minderheiten mit jüdischen Werten unvereinbar sei.
"Wir leben hier sicher, wir möchten hier bleiben"
Müssen wir wieder Angst haben? Diese Frage, mit der sein Vortrag überschrieben war, wollte Kiesel weder bejahen noch verneinen. Ein Teil der Juden sei verunsichert. Insbesondere bei der ältesten Generation drängten sich scheinbar überwundene Ängste wieder ins Bewusstsein. Gleichzeitig hätten Juden in Hessen den Eindruck: „Wir leben hier sicher, wir möchten hier bleiben.“ Was es braucht, damit es bei dieser Einstellung bleibt, das hatte - wie mehrfach an diesem Tag zitiert - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der zentralen Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in Nürnberg als Appell formuliert: Lassen Sie uns also auf die Frage "Mensch, wo bist Du?" antworten: Hier! Wir sind hier! Jeder einzelne von uns. Und wir versprechen, nicht wegzuschauen!