Die Wirklichkeit begegnet uns freundlich
Die Wirklichkeit begegnet den Menschen freundlich. Davon ist Bischof Dr. Georg Bätzing persönlich überzeugt. Im Festgottesdienst zum Jahresabschluss am Sonntag, 31. Dezember 2023, im Frankfurter Bartholomäusdom blickte der Bischof von Limburg und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz auf ein gesellschaftlich und kirchlich herausforderndes Jahr zurück.
„In den großen Zusammenhängen dieser Welt, der Schöpfung, der Menschheit und des Glaubens sieht es freilich düster aus“, sagte Bätzing. Flucht, Vertreibung, Krieg, Terror oder auch die Klimakrise mit ihren ökologischen und ökonomischen Folgeentwicklungen forderten heraus und bestimmten den Rückblick auf das Jahr 2023. „Ja, die Welt hat im Laufe dieses Jahres viel verloren. Die ungezählten Menschen, die leben wollten wie wir, aber sinnlos aus dem Leben gerissen wurden, legen eine Wolke von Trauer, tiefer Enttäuschung und Fragwürdigkeit auf das Ende dieses Jahres“, so der Bischof.
Verdrängung und Verharmlosung wären fatal
Auch die Kirche habe viel verloren. Hundertausende hätten ihr den Rücken gekehrt und seien aus ganz unterschiedlichen Gründen ausgetreten. „Es tut mir leid um jede und jeden Einzelnen“, sagte Bätzing und blickte auf die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU), die im November 2023 veröffentlicht wurde. Sie bestätigt der katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland das Bild des anhaltenden Niedergangs. Der Studie zur Folge gehörten nur mehr 48 Prozent der Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen an. Und noch deutlich weniger glaubten, dass es einen Gott gebe, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben habe. Für die Lebensführung hätten religiöse Überzeugungen so gut wie keine Bedeutung mehr. „Unser Land wird säkularer und die Mehrheit der Bevölkerung ist kaum noch religiös ansprechbar“, bilanziert Bätzing. Nur noch vier Prozent der katholischen und sechs Prozent der evangelischen Gläubigen hätten angegeben, ihrer Kirche eng verbunden zu sein. Das Vertrauen, vor allem in die katholische Kirche, sei enorm gesunken und fast die Hälfte der Katholikinnen und Katholiken denke über einen Kirchenaustritt nach. „Solche Entwicklungen zu verdrängen oder zu verharmlosen, das wäre fatal. Wir müssen uns ehrlich machen und von Augenwischerei verabschieden. So massive Abbrüche machen traurig, und wir sollten uns eingestehen: Es gelingt uns schon lange nicht mehr, den Glauben und die Verbundenheit zur Kirche von Generation zu Generation weiterzugeben“, stellte der Bischof fest.
Menschen gehen auf Distanz zur Kirche
Angesichts dieser Entwicklungen gebe es nicht wenige, die schnell Schuldige dafür gefunden haben. Für die einen sei die „böse“ Welt mit ihrem Wachstums-, Wellness- und Genderwahn oder der Zeitgeist Schuld. Solche allzu einfachen Narrative fänden zunehmend Befürworter, seien jedoch wenig hilfreich. Enttäuschung, Müdigkeit und traurige Kraftlosigkeit ließen sich jedoch nicht dadurch abwenden, dass man die Lage vereinfache und die Schuld abwälze. Dies verhindere eher die Suche nach Auswegen und neuen Perspektiven. Und es sei vor allem eine Art von Unglaube, denn er traue Gott nicht zu, in diese Zeit hinein Zeichen zu geben und die Zukunft zu weisen. „Persönlich trägt mich seit langer Zeit eine Überzeugung, die sich aus vielen Erfahrungen speist: Die Wirklichkeit begegnet uns freundlich. Unser Gott ist doch ein Gott der Geschichte. Wir glauben daran, dass er sich in Raum und Zeit unserer Welt gezeigt hat, als Jesus Mensch wurde. Das ist die Wirklichkeit des Glaubens“, sagte Bätzing.
Plädoyer für den zweiten Blick
Der Blick auf die Wirklichkeit des Glaubens fordere ein zweites Hinschauen und einen vertieften Blick ein. Nur so könnten bisherige Muster durchbrochen, Denkgewohnheiten geweitet und wirklich Neues geschehen. Der zweite Blick auf die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeige beispielsweise auch, wo Chancen für die Kirche liegen. „Diejenigen, die bleiben, erwarten von der Kirche den Einsatz gegen Armut und für Gerechtigkeit und dies spiegelt auch die überwiegende Mehrheit der Konfessionslosen. Der Einsatz für Geflüchtete, für den Klimaschutz und gegen Armut ist offenbar auch in der Außenwirkung nach wie vor ein Glaubwürdigkeitskriterium für die Kirche“, sagte der Bischof.
Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeige zudem, dass sich die Kirche verändern müsse, wenn sie eine Zukunft haben wolle. Zu den wichtigsten Themen, die in der Studie genannt werden, gehörten ein positiver Umgang mit Homosexualität, mehr echte Mitbestimmung von Laien, die freie Wahl von Ehe oder Ehelosigkeit für die Priester und eine stärkere ökumenische Zusammenarbeit. „Reformen lösen gewiss nicht alle Probleme der katholischen Kirche, aber diese verschärfen sich, wenn Reformen ausbleiben“, so Bätzing. Die Kirche sei nicht am Ende. Aber eine ganz bestimmte soziale Form von Kirche neige sich dem Ende zu, die in den vergangenen 150 Jahren prägend gewesen sei.
Die Quellen des Glaubens sprudelten, so Bätzing, auch heute noch. Die frohe Botschaft des Evangeliums habe nichts an Aktualität eingebüßt. Gott stehe zu seinen Verheißungen und zum Menschen. Deshalb dürfe man am Ende eines herausfordernden Jahres dankbar sein und Gott loben für all das Gute und für seine Liebe zu jedem Menschen.