WALDERNBACH, 20.10.2023
Raus aus der Komfortzone
„Ich habe mir zuvor nicht viele Gedanken darüber gemacht, wie es hier sein wird und was uns erwartet“, erzählt Frances Gloe. Die Oberstufenschülerin der St. Angela Mädchenschule in Königstein war eine von elf Schülerinnen, die sich während der jährlichen Orientierungstage der Schule für die „Partnerschaftlichen Tage zum Aufatmen“ im Hildegardishof in Waldernbach entschieden hat. Dort traf die Königsteiner Gruppe Ende September auf Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen des St. Vincenzstifts Aulhausen.
„Als wir uns zum ersten Mal gesehen haben, gab es keine Grenzen, wir kamen sofort ins Gespräch und da habe ich direkt gemerkt, wie viele Gemeinsamkeiten wir haben – das fand ich beeindruckend“, sagt Gloe. Doch bevor die beiden Gruppen aufeinandertrafen, wurden die Schülerinnen aus Königstein auf das Zusammentreffen vorbereitet. Sie schrieben ihre Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich der Begegnung auf und erlebten mithilfe von Inklusionskisten aus dem Bistum Limburg, wie es sich anfühlt, nicht sehen oder hören zu können oder im Rollstuhl zu sitzen. Gemeinsam suchten sie nach Barrieren im Alltag und thematisierten die „Leichte Sprache“. Weiterhin bereitete der Film „So wie du bist“ die Schülerinnen auf das bevorstehende Treffen vor.
Voller Kraft in die Zukunft
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Am nächsten Tag, als die Gruppe aus Aulhausen hinzukam, lernten sich die Schülerinnen und Schüler beider Schulen kennen und hatten die Aufgabe, sich in Zweiergruppen zusammenzufinden, um sich vorzustellen. Dies geschah mithilfe von Steckbriefen, die die Jugendlichen zuvor angefertigt hatten. „Dabei zeigte sich, dass wir gemeinsame Hobbies haben. Dinge, die Jugendliche eben so tun: Musik hören, lesen, einige von uns singen auch“, berichtet Gloe. Auch in Bezug auf die Zukunft stellten sich Gemeinsamkeiten heraus, denn die Jugendlichen beider Schulen haben klare Ziele vor Augen. Gloe möchte später gerne Politik studieren und will sich dafür in der Schule anstrengen. Und auch Jennifer Akin, Schülerin des St. Vincenzstifts, hat genaue Vorstellungen für die Zeit nach der Schule. „Ich möchte gerne Verkäuferin werden – im Kino oder einem Supermarkt, weil ich es einfach mag, mit Menschen in Kontakt zu sein“, erzählt die 15-Jährige. Beim Gehen ist sie auf einen Rollator angewiesen. „Damit das klappt, muss ich die Schule gut abschließen und auch das Gehen lernen, damit ich auch Dinge tragen kann. Dafür trainiere ich jeden Tag. Auch wenn ich manchmal Angst habe, dass ich es nicht schaffe, bin ich ein Mensch, der an sich selbst glaubt“, sagt sie. Mit Liegestützen, Kickboxen und Ausdauertraining übt sie, damit sie mehr Kraft bekommt. Ihr größter Wunsch: „Dass meine Krankheit heilt und ich hoffentlich bald richtig laufen kann.“
Auf Akins Beeinträchtigung wurde von Anfang an Rücksicht genommen. „Wir haben das Spiel Obstsalat gespielt, bei dem man häufig den Platz wechseln muss. Als Jennifer fragte, wie sie es mit ihrem Rollator machen solle, hat sich eine Schülerin sofort bereit erklärt, mit ihr zusammen zu spielen. Die beiden waren dann natürlich nicht so schnell wie die anderen, aber darauf wurde Rücksicht genommen“, erzählt Barbara Keiper. Sie ist Lehrerin an der St. Angela Schule, unterrichtet dort die Fächer Mathematik und katholische Religion. „Wir finden es ganz wichtig, dass die Schülerinnen sich für Situationen öffnen, die ihnen bisher unbekannt sind. Sie sollen auch mal aus ihrer Komfortzone herauskommen. Dazu bieten die Partnerschaftlichen Tage zum Aufatmen eine ausgezeichnete Gelegenheit“, sagt Keiper. Ziel sei es, Barrieren in den Köpfen der Jugendlichen frühzeitig abzubauen.
Erlebnisparcours schafft Vertrauen
Um dieses Ziel zu erreichen, wurden während der Begegnungstage auch Spiele gespielt, die Vertrauen aufbauen und das Gemeinschaftsgefühl stärken. Die Schülerinnen und Schüler absolvierten gemeinsam verschiedene Stationen im Erlebnisparcours, die sie nur gemeinsam bewältigen konnten. Unter anderem führten sie sich blind über das Außengelände des Hildegardishofs und versuchten, einen möglichst hohen Turm aus Holzsteinen zu bauen. „Wir unterstützen uns hier gegenseitig und das ist total cool“, sagt Gloe. Abends saßen die Jugendlichen dann gemeinsam am Lagerfeuer, sangen Lieder und grillten Marshmallows.
„Viele Menschen denken, dass Inklusion ein komplizierter Prozess ist mit vielen Richtlinien und umfangreichen Diskussionen. Ich nehme wahr: Inklusion hat mit dem Leben zu tun. Wenn Menschen aufeinander treffen und ihre Realität gestalten, kann das Spaß machen. Natürlich gibt es auch Herausforderungen, aber diese kann man gemeinsam bewältigen“, betont Jochen Straub, Leiter des Referats Seelsorge für Menschen mit Behinderungen im Bistum Limburg. Vor mehr als 20 Jahren rief er das Projekt gemeinsam mit Barbara Keiper ins Leben. Die Partnerschaftlichen Tage zum Aufatmen werden zweimal im Jahr durchgeführt: einmal zwischen der St. Angela Schule und dem St. Vincenzstift sowie einmal zwischen der Limburger Marienschule und der Lebenshilfe Limburg.