RÜDESHEIM, 27.07.2015
Sommeraktion: Auf dem Hildegardweg die Stille spüren
Größer könnte der Kontrast kaum sein. Rüdesheim steht an diesem Sonntag ganz im Zeichen von Motorenröhren und blitzendem Chrom. Unter dem Motto "Magic Bike" tummeln sich hier tausende Motorradfahrer aus ganz Europa. Auf dem Weg vom Bahnhof zur Brömserburg, unserem Einstieg in den Hildegardweg, sind vor allem Menschen in schwarzer Lederkluft unterwegs. Zweihundert Meter geht es durch den Trubel, dann biegen wir links in die Burgstraße ein, immer dem prägnanten Symbol der Hildegard von Bingen nach, das uns an diesem Tag begleiten wird. Es geht bergan, nach einem leichten Anstieg ändert sich fast abrupt das Bild. Wir sind inmitten der Weinberge und auf einmal fällt sie uns auf ? die Stille.
Die mächtigen Türme im Blick
Nur noch ein leises Hintergrundrauschen dringt aus der Stadt wie von ferne zu uns hoch, auf dem Rhein zu unseren Füßen gleitet lautlos ein Frachtschiff vorbei. Von diesem Standort unterhalb der Seilbahn wird beim Blick über den Fluss deutlich, wo Hildegards Kloster auf dem Rupertsberg stand. Am östlichen Nahehang, dem heutigen Bingerbrück, hatte sie 1150 die neue Niederlassung gegründet. Nachzulesen ist das an Ort und Stelle auf einer der Schautafeln, die im Laufe des Pilgerwegs über Hildegards Leben und Wirken im Mittelalter berichten, ihre Natur- und Heilkunde, die Klöster. Da passt es, dass wenige Meter weiter erstmals die Türme der mächtigen Abtei St. Hildegard in den Blick geraten. Beim Weitergehen ist sie mal linkerhand, mal rechts zu sehen ? der Pilgerweg schlägt Haken durch die Rebenlandschaft.
Und ihr seid die Reben
Harmonisch fügt sich hier das alte Wegkreuz ein. Am verwitterten Holz ist ein buntes Emaille-Schild mit einem kleinen Bilderrätsel angebracht: Stock und Reben sind darauf dargestellt. Sie ergänzen die Worte: "Ich bin der", "Und ihr seid die". Wilde Brombeeren wachsen am Wegesrand, rot leuchtet der Klatschmohn, Kamillenblüten sind gelb dazwischen gestreut. Verschlafen liegt das Örtchen Eibingen vor den Pilgern. Mit einem Glockenschlag macht die Pfarr- und Wallfahrtskirche auf sich aufmerksam. Genau an diesem Platz hatte Hildegard, so steht es auf der aufgestellten Tafel, 1165 ein verwaistes Kloster für einen zweiten Konvent erworben. Wer heute die Kirche betritt, sieht schon vom Eingang aus den goldenen Hildegardisschrein im Chorraum leuchten. Hier sind seit 1929 Reliquien der Heiligen aufbewahrt.
2475 Kilometer bis Santiago
Draußen ist unter den großen Kastanien gut rasten. Wo sich zum Hildegardisfest im September wieder Hunderte Wallfahrer aus aller Welt zusammenfinden, ist es heute menschenleer. Dann geht es weiter durch die Oberstraße, vorbei an Gutsausschänken mit verlockenden Gärten, und wieder hinein in die schon vertrauten Weinberge. An der Abtei angekommen, fühlen wir uns für einen Moment eingereiht in den Strom der Pilger, die sich seit Jahrhunderten auf den Weg machen zum Grab des Apostels Jakobus. An der verwitterten Mauer unterhalb des letzten Stück Weges ist das moderne Symbol der Jakobsmuschel angebracht: Von hier aus sind es noch genau 2475 Kilometer nach Santiago de Compostela. Und dreihundert Meter zur Abteil St. Hildegard, der offiziellen Nachfolgerin der Klöster auf dem Rupertsberg und in Eibingen, wie es auf der Infotafel heißt.
Meditative Atmosphäre
"Herzlich willkommen": So steht es nicht nur über der Tür des Klostercafés geschrieben, in dem wir uns hausgemachten Apfelstreusel schmecken lassen, so fühlen sich die Besucher bei jedem Schritt in der großzügigen Anlage. Auf dem Kirchenvorplatz stehen die Rosen in voller Blüte und erfüllen die Luft mit ihrem Duft, mitten drin eine eindrückliche Statue der heiligen Hildegard, zart und schmal rührt sie den Betrachter. Die Kirche mit ihren farbigen Wandmalereien umfängt uns mit ihrer meditativen Ausstrahlung. Wie viele Pilger haben diese besondere Atmosphäre wohl schon gespürt? "I thank you for this place of peace", hat eine amerikanische Besucherin aus Ohio in das Gästebuch geschrieben.
Über uns und unser Tagwerk
Von der Abtei aus führt der Weg zunächst oben am Hang entlang, mit weitem Blick über das Tal, dann an einer schönen großen Linde vorbei hinunter zur Ringmauer und weiter zur Uferstraße. Auf der Heimfahrt im Zug, der uns zurück in den Alltag bringt, erinnern wir uns an ein kleines Gebet, angebracht an einem der vielen Kreuze am Wegesrand, das uns in seiner Schlichtheit angesprochen hat: "Herr, halte schützend deine Hand über uns und unser Tagwerk."
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