London, 29.10.2019
Kirche, die raus geht zu den Menschen
Mit vielen begeisternden Eindrücken von kirchlichen Projekten und Gemeindearbeit sind 22 Kundschafter aus dem Bistum Limburg am Wochenende aus London zurückgekehrt. „Wir haben hier eine große Bandbreite von verschiedenen Gottesdiensten besucht“, sagt Annette Herrmann aus Frankfurt. „Von der Mega-Church Hillsong, wo mehrere tausend Menschen mitreißende Lobpreis-Gottesdienste feiern, bis hin zu geistlichen und gleichzeitig offenen Gottesdiensten etwa in der Pfarrei St. Martin in the Fields, die sehr authentisch und echt waren. Das war sehr bewegend und hat mir deutlich gemacht, dass man auch bei unseren Gottesdiensten zu Hause überlegen muss, wie wir andere Angebote schaffen können“, fasst die Ehrenamtliche ihre Eindrücke zusammen. „Mir scheint die ,mixed economy‘ der anglikanischen Kirche ein gutes Beispiel für die Arbeit in unseren Pfarreien zu sein“, meint Gabriela von Melle. Dieses Verständnis von Kirche als Netzwerk verschiedenster Angebote biete die Möglichkeit, traditionelle und neue Formen ohne Konkurrenzdenken nebeneinander zu entwickeln. „Das bedeutet eine größere Vielfalt und ermöglicht ein vielseitiges Auftreten als Kirche, um unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Zugänge zu Glaube und Kirche zu ermöglichen“, findet die Pastoralreferentin aus Frankfurt.
Beziehungsaufbau und persönliche Gotteserfahrung
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Die Gruppe aus dem Bistum, darunter Teams aus Pfarreien, der Erwachsenenbildung und den katholischen Jugendverbänden, besuchte eine Woche lang vom 19. bis 26. Oktober innovative Projekte und Gemeinschaften, sogenannte „fresh expressions of church“ (dt. frische Ausdrucksformen von Kirche). Seit etwa 20 Jahren erprobt die anglikanische Kirche neue Formen kirchlichen Lebens und will mit den Projekten Menschen ansprechen, die keinen Kontakt zur Kirche haben. Die Gemeinden setzen sich häufig für ihren Stadtteil ein und schaffen Orte, wo Menschen Gemeinschaft erfahren und Spiritualität individueller leben können. Im Vordergrund stehen dabei ein Interesse an Menschen, Beziehungsaufbau sowie die persönliche Gotteserfahrung.
Für seinen Kaffee ist etwa „Kahaila“ in der Londoner Brick Lane bekannt. Das Café wird von einer kleinen Gemeinde und vielen Freiwilligen getragen. Es richtet sich an junge Menschen, Kreative und Touristen und unterscheidet sich wenig von professionell geführten Cafés. Um das Café gibt es verschiedene Angebote zum Beispiel einen Barista-Kaffee-Kurs oder ein Begleitungsangebot für Frauen nach Missbrauch. Die Pfarrei St. Martin in the Fields im Zentrum Londons spricht Menschen mit Kirchenmusik und Konzerten an. Sie will aber auch eine Kirche sein, die offen ist für alle Menschen und Anliegen, unabhängig von Herkunft, sexueller Orientierung und Religion. So finden hier zum Beispiel Obdachlose, Asylsuchende und Heimatlose eine Anlaufstelle. Die Kirche öffnet darüber hinaus ihre Räume für sehr unterschiedliche Gruppen und Menschen. Schon seit zwölf Jahren treffen sich Leute der Gemeinde St. Luke’s auf dem Markt in Walthamstow im Nordosten Londons, um als Kirche auf dem Marktplatz präsent zu sein. Ein eigenes Kirchengebäude hat die Gemeinschaft nicht mehr. Unter der Woche finden Angebote in verschiedenen Cafés statt. Die „Messy Church“ richtet sich an Kinder und deren Bezugspersonen, der deutsche Ableger heißt „Kirche kunterbunt“. Neben einem gemeinsamen Essen und Gottesdienst können Kinder und Eltern an vielen verschiedenen kreativen Angeboten teilnehmen.
Veränderung braucht Einsatz und Ressourcen
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Neben den unterschiedlichen Projekten standen auch Treffen mit interessanten Gesprächspartner auf dem Programm. Der Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde St. Bonifatius in London, Andreas Blum, informierte über die ökumenischen Beziehungen und die Situation der Katholiken in London. Der anglikanische Bischof Graham Tomlin, Bischof von Kensington, stellte das Ausbildungskonzept im St. Mellitus College vor, das sich von der traditionellen akademischen Ausbildung an theologischen Seminaren unterscheidet und einen hohen Praxisbezug aufweist. 330 Studierende, ein Drittel aller Studierenden für das anglikanische Priesteramt, werden an der zwölf Jahre alten Einrichtung auf ihren Einsatz vorbereitet. St. Mellitus bietet, so Graham, eine völlig andere Ausbildung an, die Menschen nicht aus ihren kirchlichen Kontexten herausnehme. „Viele unserer Studenten leben und arbeiten in den Pfarreien.“ Neben der theologischen Ausbildung würden auch praktische Kenntnisse, etwa in Personalführung oder Moderation, vermittelt. Anders als bei traditionellen Seminaren, die sich meist einem bestimmten Zweig der anglikanischen Kirche – etwa der anglo-katholischen oder der protestantischen Tradition - verbunden fühlen, werde in St. Mellitus Vielfalt gezielt gefördert: „Studenten verschiedener Traditionen können hier voneinander lernen“, erklärt der Theologe. Das College sei heute ein „Ort der Hoffnung“ für die gesamte Kirche. Die verhältnismäßig junge Einrichtung habe schon dazu beigetragen, dass andere theologische Seminare ihre Ausbildung überdenken und verändern. Tomlin machte darüber hinaus deutlich, dass Veränderung nicht ohne Risiko sei. Da es in Großbritannien keine Kirchensteuer gibt, müssten die begrenzten finanziellen Mittel besonders da eingesetzt werden, wo es lebendige Gemeinden oder begeisterte Menschen gebe. „Es ist wichtig, Ressourcen gerade für neue Formen von Kirche einzusetzen“, sagt Tomlin. Manche Initiativen scheiterten, das sei aber natürlich.
Ein anderer Blick auf Kirche
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„Was mich an der Exkursion beeindruckt hat, war die Art und Weise wie die Leute hier auf ihre Umgebung schauen. Bei uns klagt man häufig darüber, dass die Leute nicht mehr religiös oder christlich geprägt sind. Hier haben wir Leute erlebt, einen Pfarrer zum Beispiel, der das als Chance sieht“, erklärt Martin Klaedtke, Leiter der Exkursion. Viele der Projekte versuchen Menschen anzusprechen, die keine Berührungspunkte zu Kirche haben. „Es geht darum, raus zu gehen und nicht darauf zu warten, dass die Leute zu uns kommen, sondern Beziehungen aufzubauen. Das war ein ganz anderer Blick.“
Eindrücke und Statements von Teilnehmern sowie Videos und Bilder von der Exkursion finden sich in einem eigenen Reise-Tagebuch.
Hintergrund „fresh expressions of church“
Seit mehr als zwei Jahrzehnten sucht die anglikanische Kirche nach Wegen auf neue Art Gemeinschaft zu sein und den Glauben zu verkündigen. Entstanden sind unterschiedliche kirchliche Projekte und Gruppen, die unter dem Begriff „fresh expressions of church“ (dt. frische Ausdrucksformen von Kirche) zusammengefasst werden. Sie unterscheiden sich stark von traditionellen Kirchengemeinden und sprechen mit ihren Angeboten meist Menschen ohne Berührungspunkte zur Kirche an. Zu den „fresh expressions“ gehören beispielweise Kletterkirchen, Gottesdienste in Bars und Cafés, Kirchen auf dem Bauernhof und vieles mehr. Weltweit gibt es heute mehr als 3.000 Initiativen.
Hintergrund Exkursionen
Sich inspirieren lassen, über den Tellerrand schauen: Darum geht es bei den sechs Exkursionen, die das Bistum Limburg für den Prozess der Kirchenentwicklung im Jahr 2019 veranstaltet hat. Zu den Exkursionen sind Teams aus Haupt- und Ehrenamtlichen aus Pfarreien, katholischen Verbänden und Einrichtungen zusammen mit Personen aus der Bistumsleitung und dem Ordinariat eingeladen. Ziel der Exkursionen ist, dass Teilnehmer Ideen und Orientierung für die weitere Entwicklung der Kirche im Bistum Limburg gewinnen können. Neben Exkursionen in verschiedene deutsche Diözesen reisten Kundschaftergruppen auch nach Israel, Paris und auf die Philippinen.
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