FRANKFURT, 11.08.2021
Gemeinsam die Ohnmacht aushalten
Keinen Menschen abschreiben: Das ist einer der Grundsätze, von denen sich Helmut Preis in seiner Arbeit leiten lässt. In der Psychiatrie sei er dafür noch einmal mehr sensibilisiert worden, sagt der katholische Theologe. Er ist Seelsorger in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universitätsklinik Frankfurt und dem Zentrum der Neurologie und Neurochirurgie und stellt sich dort oft die Frage, was eigentlich normal ist und ob eine solche Zuschreibung überhaupt weiterführt. Wenn ein Mensch eine Psychose habe und absonderliche Verhaltensweisen zeige, zum Beispiel in der Stadt herumschreie, besitze er trotzdem Würde und Wert. Und schädige damit ja auch erst einmal niemanden. Diese Grundeinstellung erweitere den Horizont, hat der Pastoralreferent erfahren, der aus Überzeugung und eigenem Wunsch seit rund zwei Jahren an genau diesem Ort eingesetzt ist.
"Gott gibt uns ja auch nie auf"
Manchmal sei es schon eine Sisyphos-Arbeit, räumt er mit Blick auf die sogenannten Drehtürpatienten ein. Wenn „alte Bekannte“ wieder auf der Station auftauchten, führe das beim Personal mitunter zu einem leisen Aufseufzen, wie er beobachtet hat. „Da geht es um ein Gefühl von Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit.“ Er selbst aber habe eine ganz andere Rolle als Psychologen und Ärzte: „Sie sind sehr konkret auf die Therapie und deren Erfolg konzentriert, bei mir kann es auch um den göttlichen Funken in jedem von uns gehen.“ Jeder Mensch sei ein geliebtes Kind Gottes, auch wenn er gerade nicht liebenswert erscheine. Nicht aufgeben und immer wieder neu versuchen, die passende Hilfestellung zu geben, ist seine Maxime: „Gott gibt uns ja auch nie auf“.
Er erinnert sich gut an einen seiner ersten Patientenkontakte in der Einrichtung. Der Mann, ein Suchtkranker, sei in der Klinik jeweils gut eingestellt und trocken gewesen, nach seiner Entlassung aber regelmäßig in eine Abwärtsspirale geraten, ohne Job und ohne Bleibe „abgestürzt“ und erneut in der Klinik gelandet. „Wir haben sehr viele Gespräche geführt, ich habe ihn immer wieder ermutigt und an seine Ressourcen erinnert, die ja trotz allem da waren“, erzählt Preis. Nach seiner letzten Entlassung sei der Patient auf eine engagierte Sozialarbeiterin getroffen, mit deren Hilfe er in eine andere Stadt umziehen konnte, weit genug entfernt von seinem bisherigen Umfeld. Dort habe er tatsächlich Begleitung, Arbeit und Wohnung gefunden.
"Ich will nicht missionieren"
„Psyche heißt Seele: Eigentlich haben Psychiater und Psychologen und wir Seelsorger sogar dasselbe Thema“, meint er und spricht von einer „guten Koexistenz“. Allerdings sieht er sich nicht als Teil des Behandlungskonzeptes. Die Seelsorge sei ein offenes Angebot für alle in der Klinik, die Mitarbeiter eingeschlossen, mit denen er vor allem „Tür- und Angelgespräche“ führe. „Wir Seelsorger bieten uns selbst an, als Menschen, die durch eine Lebens- und Glaubensgeschichte geprägt sind.“ Wo Patienten offen für religiöse Rituale sind, mitunter noch aus der Kindheit her, betet er auf ihren Wunsch hin mit ihnen und spendet einen Segen. Das könne stützen und helfen. „Aber ich missioniere nicht“, stellt er entschieden klar. Dass die meisten Menschen keine voreiligen Ratschläge brauchen, steht für ihn ebenso sicher fest. Stattdessen gehe es darum, gut zuhören zu können und die Not und den Bedarf jedes Einzelnen empathisch wahrzunehmen. Dass sein Angebot nicht zeitlich gebunden ist, empfindet er als Luxus. „Ich kann meinen Gesprächspartnern so viel Zeit geben, wie nötig und muss nicht nach 40 Minuten abbrechen, weil die Krankenkasse das sonst nicht mehr abrechnet.“
Manchmal gehe es auch nur darum, die Ohnmacht zu teilen. Zum Beispiel, wenn eine Patientin aufgrund fehlender Krankheitseinsicht die richterlich verfügte Zwangseinweisung nicht verstehen könne. Ihm aber gleichzeitig berichte, dass sie die Nachbarin aggressiv bedroht und den Hausrat auf die Straße geworfen habe. Oder wenn er mit der Bitte „Holen Sie mich hier raus!“ konfrontiert wird. „Das ist ein Hilferuf: Den muss ich hören als Seelsorger“, sagt Helmut Preis. Den Wunsch erfüllen könne er natürlich nicht, aber die Hilflosigkeit gemeinsam mit dem Betroffenen aushalten. Das sei schon sehr viel.
Weiterbildung ist hilfreich
Vieles in der Psychiatrie ist nach seinen Worten ein Balanceakt: zwischen Zuwendung und Abgrenzung, aber auch zwischen der Freiheit des Einzelnen und seinem Angewiesensein auf Gemeinschaft. „Psychisch Kranke haben ein Recht auf ihre Krankheit und müssen nicht zwangsgeheilt werden“, nimmt Preis dezidiert Stellung, „aber manchmal muss die Gemeinschaft vor den Auswirkungen ihrer Krankheit geschützt werden.“ Argumente und Unterstützung erwartet er sich im Blick auf diese und andere ethischen Fragestellungen von dem Praxisforschungsprojekt „Ethik in der Psychiatrieseelsorge“, das von der Arbeitsstelle Medizinethik in der Klinikseelsorge im Fachbereich Katholische Theologie an der Goethe-Universität veranstaltet und von den Bistümern Limburg und Trier finanziert wird. An den in diesem Rahmen entwickelten Kursmodulen will der Seelsorger in jedem Fall teilnehmen. „Die Psychiatrie ist ein so weites Feld, da ist jede Weiterbildung hilfreich.“