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WIESBADEN, 26.07.2021

„Die Seele ist noch weit weg“

Die Menschen haben Unfassbares erlebt: Miriam Gies engagiert sich als ehrenamtliche Notfallseelsorgerin in den Flutgebieten und berichtet im Interview von ihren Einsätzen.

Pastoralreferentin Miriam Gies ist Krankenhausseelsorgerin in den Dr. Horst Schmidt Kliniken in Wiesbaden und seit über zehn Jahren ehrenamtliche Notfallseelsorgerin an ihrem Wohnort Mainz. In dieser Funktion engagiert sie sich in ihrer Freizeit oder im Urlaub in den Katastrophengebieten.

Sie waren in den vergangenen Tagen mehrmals in den Flutgebieten im Einsatz. Wie ist es dazu gekommen?

Die Leitung der Notfallseelsorge im Bistum Mainz - da bin ich in diesem Ehrenamt angebunden -  hatte per Mail einen Hilferuf vom Deutschen Roten Kreuz erhalten, dass dringend Notfallseelsorger gebraucht werden. Der erste Trupp ist dann gleich am Freitagabend (16. Juli) noch raus, samstags war ich zum ersten Mal mit dabei, danach folgten weitere Einsätze.

Wie war der erste Tag?

Der erste Eindruck war einfach nur schockierend. Zu dem Zeitpunkt war alles noch sehr chaotisch. Wir mussten am Nürburgring, wo auch die Einsatzzentrale der Notfallseelsorge untergebracht ist, ziemlich lange warten, bis es dann losging nach Ahrweiler. Was wir dort vorgefunden haben, dafür gibt es keine Worte. Die Bilder im Fernsehen können die grausame, unfassbare Wirklichkeit und die Atmosphäre dort überhaupt nicht wiedergeben. Auch unser Auftrag unterschied sich komplett von allem, was wir sonst machen. Wir sind in Zweier-Teams in Begleitung der Rettungsdienste auf Erkundung gegangen, nicht wissend, was uns dort erwartet, hatten nicht mal Gummistiefel dabei und haben uns durch den Matsch gewühlt.

Wie lief dieser Einsatz ab?

Ich bin mit meiner Kollegin auf die Menschen zugegangen, die dort am Schaufeln und Schaffen waren. Am Samstag wirkten viele von ihnen noch völlig paralysiert, geschockt. Wir sind ja erkennbar an unseren lila Westen mit der Aufschrift Notfallseelsorge und haben erst einmal nur über Blicke Kontakt aufgenommen. Eine der ersten Reaktionen war der Ausruf einer Frau: „Gut, dass Ihr da seid.“ Da hatten wir noch gar nichts gemacht. An diesem Tag konnten wir recht konkret Hilfe leisten, mit Hilfe der Polizei einen Vermissten ausfindig machen, manche Informationswege verkürzen. Sonntags haben wir in Dernau einer Frau geholfen, die weinend die Straße entlang lief. Ihr Mann lag verletzt im Haus und sie konnte ihn nicht nach draußen befördern. Das haben wir der Polizei gemeldet, die wiederum über Funk den  Rettungswagen geordert hat. Dass kein Handy funktionierte, dass die Leute wirklich total abgeschnitten waren und zum  Teil noch sind, das hat etwas Irreales. Inzwischen hat die Telekom ja zumindest den Rettungskräften Handys zur Verfügung gestellt.

Wie haben bei diesem und den weiteren Einsätzen die Menschen auf Sie und Ihre Kollegen reagiert?

Dankbar! Viele haben von sich aus das Gespräch gesucht, weil sie Unfassbares erlebt haben. Ein Ehepaar rief uns zu sich, um zu erzählen, dass sie zuschauen mussten, wie die 80-jährige Nachbarin ertrunken ist. Dienstag hat uns ein ortskundiger Jäger durch den Wald nach Mayschoß gebracht. Dort sind die Leute sofort aus den Höfen auf uns zu gekommen, um uns zu zeigen, wo Ertrunkene angespült worden waren. Auch Kinder. Der junge Einsatzleiter von der Feuerwehr, der dort Großartiges geleistet hat und mit dem wir lange gesprochen haben, war ebenfalls dabei gewesen und sagte nur kurz: „Das war schlimm.“ Wir haben mit zwei jungen Polizisten gesprochen und ausgeharrt, die auf einen Bagger warten mussten, nachdem der Leichenspürhund angeschlagen hatte. Feuerwehrmänner haben uns berichtet, wie furchtbar es war, die Menschen nachts auf den Dächern zu hören und die Taschenlampen zu sehen, aber nicht helfen zu können. Die Rettungs- und Einsatzkräfte wünschen ausdrücklich, dass wir sie begleiten. In der ganzen Situation hier wird die Notfallseelsorge definitiv gebraucht, sie ist unfassbar wichtig. Mehr und mehr auch für die Helfer!

Was können Sie den Leuten denn sagen?

Wir hören vor allem zu! Das ist schon Gold wert. Da sein und die Situation mit den Leuten aushalten. Nicht trösten oder gar vertrösten. Manchmal hilft es, auch mit anzupacken. Das haben Kollegen von uns gemacht. Beim gemeinsamen Kisten schleppen sind sie vor allem mit den Männern gut ins Gespräch gekommen. Den Menschen dort ist im wahren Sinn des Wortes der Boden unter den Füßen weggezogen worden, viele haben keine Privatsphäre mehr, keine Rückzugsmöglichkeit. Die Trauer darüber kommt jetzt erst langsam. Und die Seele ist bei den meisten noch weit weg: Was da geschehen ist, ist noch gar nicht angekommen.

Wie geht es weiter?

Auf Dauer wird zu sehen sein, inwieweit die Notfallseelsorge an ihre Grenzen kommt und Übergänge zu professioneller Therapie gestaltet werden müssen. Wenn der ganze Tross weg ist, werden erst einmal die ortskundigen Notfallseelsorger vor Ort übernehmen. Derzeit aber werden alle Kräfte gebraucht, schon bei den wenigen Besuchen haben meine Kollegen und ich zu Einzelnen Beziehungen aufgebaut. Und wer die Gesichter wiedererkennt, kann sich wieder ein bisschen mehr öffnen. Ich werde jedenfalls wieder mit vor Ort sein, möglicherweise bis in den August hinein. Konkret geplant wird derzeit immer ein über den anderen Tag.

Gibt es bei all dem Leid etwas für Sie Tröstliches?

Die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Menschen von nah und fern hat uns sehr berührt. So wie Corona die Leute auf Distanz gebracht hat, so erzeugt diese Katastrophe Nähe!

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