WIESBADEN, 02.12.2022
Kirche soll sich mehr einmischen

„Am Tag stehen 10 bis 20 Menschen bei uns vor der Tür, die nichts mehr haben“: Mit diesen Worten hat Ruth Friedrich-Wurzel beim „Forum Arbeit“ im Stadtteilzentrum Schelmengraben in Wiesbaden die aktuelle Situation der Tafel beschrieben. „Die Not nimmt zu und diejenigen, die kommen, versuchen, ihr Schamgefühl zu überwinden“, sagte die Leiterin der Wiesbadener Einrichtung, die sich überzeugt von ihrer Arbeit zeigte: „Wir wissen, wofür wir das machen.“ Zusammen mit Bischof Georg Bätzing und Stadtdekan Klaus Nebel nutzten Seelsorgende der Stadtkirche Wiesbaden, Mitarbeitende des Stadtcaritasverbandes und Mitglieder der katholischen Gremien in Wiesbaden die Gelegenheit, sich über „Prekäres Arbeiten in der wohlhabenden Stadt Wiesbaden“ zu informieren. Veranstalter waren der Sozialpolitische Arbeitskreis des Bistums Limburg und die Katholische Stadtkirche Wiesbaden.

Pflegekräfte flüchten aus ihrem Beruf
Hendrik Hallier von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) berichtete über prekäre Beschäftigung in den Felder von Gastro und Lieferdiensten. Die Fahrerinnen und Fahrer arbeiten zu Niedriglöhnen und am Rand der Belastungsgrenze. Lieferando sei in diesem Bereich der größte Player. Seine Gewerkschaft fordere hier faire Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Außerdem dürfe sich das Unternehmen nicht der Gründung von Betriebsräten in den Weg stellen.
Die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende und Pflegekraft in den Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken, Christin Jakob, gab anschließend Einblick in den Krankenhausbereich. Zunehmende Privatisierung gehe mit Outsourcing von bestimmten Bereichen wie Reinigung und Service einher. Diese Dienste würden dann in den Niedriglohnsektor fallen. Auch im Pflegebereich seien die Arbeitsbedingungen schwerer geworden. Dass eine Pflegekraft nachts mit 20 bis 30 Patienten alleine ist, sei keine Seltenheit. Insgesamt gebe es im Pflegeberuf eine stetig wachsende Zahl von Kranken, die aus der Lohnfortzahlung herausfielen. Wie Christin Jakob darlegte, treten viele Pflegekräfte die Flucht aus dem Beruf an.

Vermögenslage ist in Schräglage
Rabea Krätschmer-Hahn, Sozialplanerin im Amt für Soziale Arbeit der Landeshauptstadt Wiesbaden, erklärte, dass atypische Beschäftigungsverhältnisse umgangssprachlich als prekär bezeichnet würden. Als atypisch gelten alle Formen der Beschäftigung, die nicht dem Normalarbeitsverhältnis entsprechen. Für Wiesbaden lässt sich sagen, dass etwa 50 Prozent aller Beschäftigten einem Normalarbeitsverhältnis nachgehen, etwa 25 Prozent sind dauerhaft prekär beschäftigt und weitere 25 Prozent sind gelegentlich prekär beschäftigt.
Sozialdezernent Christoph Manjura verwies darauf, dass die Vermögenslage in Deutschland sich in Schräglage befinde. Starke Schultern sollten mehr tragen als die schwachen, um einen besseren sozialen Ausgleich zu erreichen. Das, so sein Wunsch, müssten die Kirchen einfordern. Er wünsche sich „eine Kirche, die sich einmischt“. Zu prüfen sei auch der Umgang mit kirchlichen Immobilien in Kooperation mit der Stadt.

Hohe sozialpastorale Sensibilität
Im prekären Leben und Arbeiten sieht Bischof Georg Bätzing ein „Megaproblem“ mit sich verfestigender Entwicklung, das nach großen politischen Antworten frage und konkrete Antworten auf lokaler Ebene brauche. In Stadtkirche und Stadtverwaltung erlebt er nach seinen Worten eine hohe sozialpolitische wie sozialpastorale Sensibilität. Ausdrücklich wünschte sich der Bischof eine bessere Vernetzung in der sozialen Arbeit auf Stadtebene und machte sich stark für eine konzertierte, gemeinsame Aktion von Stadtkirche und Stadtverwaltung unter Federführung der Caritas mit Blick auf das Thema des Forums: „Prekäres Leben und Arbeiten im wohlhabenden Wiesbaden“.
Das Forum Arbeit findet in unterschiedlichen Regionen des Bistums alle zwei Jahre statt. Die Veranstaltungsreihe, die im Auftrag des Bischofs vom sozialpolitischen Arbeitskreis ausgerichtet wird, soll aktuelle Anliegen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen für die Gemeindepastoral und die kirchlich-caritative Arbeit fruchtbar machen.