WIESBADEN, 17.06.2022
Nastja hat Vertrauen gefasst
Wenn Anastassija erzählt, was es in ihrer Kita zu essen gab, kann sich ihre Mutter meist keinen Reim darauf machen. Svitlana Prokopenko ist erst knapp vier Monate in Deutschland und Tortellini in Rahmsauce oder Linseneintopf sind für sie noch Fremdworte. Am 8. März ist die 39-Jährige mit ihren drei Kindern vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflohen und in Wiesbaden gelandet. Dass sie für ihre dreijährige Tochter so schnell einen Platz in der Kindertagesstätte Maria Hilf der katholischen Pfarrei St. Bonifatius bekommen hat, sei für sie eine „große Erleichterung“, übersetzt Erzieherin Christina Schlick (25) aus dem Russischen. Die guten Sprachkenntnisse der jungen Frau, deren Eltern in den 90er Jahren aus Kasachstan gekommen sind, sind mit ein Grund dafür, dass die kleine Nastja, wie sie hier genannt wird, unkompliziert als erstes ukrainisches Kind in den katholischen Kitas aufgenommen werden konnte.
Angekommen in der Igelgruppe
Es sei schließlich eine Notlage gewesen, da habe sie nicht gezögert, auch wenn es keinen regulären Platz gegeben habe, sagt Kita-Leiterin Nina Voss. Auch im Team sei trotz der Mehrbelastung klar gewesen: „Das machen wir.“ Bei der Eingewöhnung wurde viel Rücksicht auf die besondere Situation genommen. Beim ersten Besuch konnte die Kleine die Räume und die Spielsachen zusammen mit ihrer Mutter zu einem Zeitpunkt kennenlernen, als keine anderen Kinder vor Ort waren. Auch die neunjährige Schwester war mit dabei und so begeistert, „dass sie am liebsten selbst geblieben wäre“, wie Christina Schlick erzählt. Inzwischen findet sich Nastja nach ihrer Einschätzung in der Igelgruppe schon recht wohl. Sie beobachte viel, sei fröhlich, auch wenn es natürlich mal traurigere Tage gebe. Die Verständigung mit Händen und Füßen funktioniere gut und die älteren Kinder seien sehr lieb zu ihr.
Sorgen um die Kinder
„Sie ist ein Sonnenschein“, ergänzt Nina Voss, die froh ist, dass das Kind „Vertrauen gefasst hat“. Der Kita-Platz sei ihm sicher, auch wenn die ukrainische Familie alsbald wieder umziehen muss. Nachdem sie zunächst privat untergekommen waren, wohnen die vier derzeit in einem Wohnheim. Voraussichtlich können sie in naher Zukunft eine eigene Wohnung beziehen. Ihrem jüngsten Kind will Svitlana Prokopenko aber auf keinen Fall einen erneuten Wechsel zumuten. Sie nehme jeden Weg auf sich, egal von woher, sagt sie und erzählt von ihren Sorgen um die Kinder, die mit verändertem Verhalten auf die belastenden Umstände reagieren. Ihre jüngste Tochter sei extrem anhänglich und brauche wieder einen Schnuller, der 15-jährige Sohn würde am liebsten das Zimmer nicht verlassen. Nach der Flucht und den Anfängen in Deutschland gefragt, brechen ihre eigenen Gefühle so intensiv aus ihr heraus, dass sie auch ohne Übersetzung greifbar werden.
Wir hatten keine andere Wahl
Bis zu dem Zeitpunkt, als sich ihr Leben von einem Moment auf den anderen gravierend geändert hat, lebte die alleinerziehende, berufstätige Mutter mit ihren drei Kindern in der Nähe von Kiew. Wegen eines benachbarten Militärstützpunktes brachen sie schon am Tag nach dem Kriegsbeginn auf in eine andere Region. Auch dort rückte die Gefahr schnell näher, waren die Bomben schon zu hören. Schweren Herzens entschloss sie sich zur Flucht. Alles andere als eine einfache Entscheidung, schließlich hatten weder sie noch die Kinder jemals ihre Heimat verlassen. „Aber wir hatten keine Wahl.“, sagt sie mit Tränen in den Augen. Sie ist sehr dankbar für jegliche Hilfe, wie sie mehrfach betont, aber es fällt ihr nach ihren eigenen Worten schwer, sich in Deutschland mit all seinen fremden Regeln und Vorschriften zurecht zu finden.
Hilfsbereite Eltern
Die russisch sprachige junge Erzieherin ist ihr in dieser Situation „ein Riesenanker“, wie Nina Voss erklärt. Sie sei einer ihrer wichtigsten Kontakte und in allen Fragen rund um Behördengänge, Formulare, hiesige Gegebenheiten ihre Ansprechpartnerin. „Frau Prokopenko kann immer kommen, wenn sie etwas braucht“, bietet auch sie selbst im Gespräch mit der Mutter Unterstützung an, ob beim bevorstehenden Umzug, bei der Beschaffung von Möbeln und Hausrat für die komplett leere neue Wohnung, oder bei der Kommunikation mit der Grundschule, damit die Neunjährige nicht mehrfach wechseln muss. Die Hilfsbereitschaft der Kita-Eltern sei groß, freut sich Voss. Wenn sie jetzt um dringend benötigte Sommersandalen für Nastja und ein Puzzle bitten werde, „habe ich das übermorgen“.
"Wo immer es geht, machen wir das!"
Sie könne sich gut vorstellen, ein weiteres ukrainisches Kind aufzunehmen, gerne eines, das bereits im Wohnheim in Kontakt mit der Familie sei. Den Wunsch der Stadt, flächendeckend pro Gruppe ein Kind mehr aufzunehmen, beurteilt sie skeptisch. Viele Kinder hätten nach den zwei Corona-Jahren einen Riesenbedarf, sagt sie und spricht von herausforderndem Verhalten, sprachlichen und auch kognitiven Verzögerungen. Dass bei den katholischen Kitas, in denen jetzt eine Handvoll ukrainischer Kinder betreut wird, individuell verfahren wird, bestätigt Dr. Julia Fauth, Kitakoordinatorin und Trägerbeauftragte der Pfarrei St. Bonifatius. In manchen Kitas seien die Räumlichkeiten nicht gegeben, zudem fehle mancherorts Personal. „Aber wo immer es geht, machen wir das.“, versichert sie.