FRANKFURT, 11.09.2022
Ein ewiges Zeichen der Zuversicht auf der Haut
„Ich bin aufgeregt, aber nur wegen des Interviews, nicht wegen der Tätowierung“, lacht Antje Salg. Die 43-jährige Biologin aus Hainburg sitzt in der Liebfrauenkirche und die Sonne strahlt durch die bunten Fenster des Seitenschiffs, als sie den Ärmel ihres Shirts nach oben streift. Ihr linker Oberarm wird rasiert und vorbereitet. Der intensive Duft von Desinfektionsmittel statt Weihrauch liegt in der Luft und auf einem Tisch stehen Einmalhandschuhe und Küchenrollen parat, anstelle der sonst üblichen Gesangsbücher: Es ist Live-Tattoo-Walk-In!
Die Katholische Erwachsenenbildung Frankfurt (KEB) und das Citykloster Liebfrauen haben eingeladen, sich live und gratis in der Kirche tätowieren zu lassen und über 30 Menschen sind dieser Einladung gefolgt.
An der Tätowiernadel ist Silas Becks mit seinem Team. Der Stuttgarter Tätowierer gilt weltweit als einer der Besten seines Fachs und seine fein geschwungenen Kalligrafien sind sehr gefragt. Zudem ist der gläubige Katholik Gründungsmitglied der Societas Indelebilis (Verband katholischer Tätowierender). „Jeder Tätowierer weiß, es ist nicht nur Dienst am Körper, sondern auch Dienst an der Seele, denn was Menschen beim Tätowieren von sich erzählen ist teils starker Tobak“, betont er. Die bleibenden Zeichen unter der Haut sind daher häufig äußerliche Bekenntnisse zu einer inneren Haltung, „schließlich lässt sich eine Tätowierung nicht einfach abwaschen, oder ablegen wie ein Kleidungsstück.“ Ein Tattoo bildet daher immer etwas ab, das man nah bei sich tragen will: beispielsweise den Namen eines geliebten Menschen oder ein individuelles, auch religiöses Symbol, das Schutz und Trost spendet. So hat eine Tätowierung in vielen Fällen eine äußerst spirituelle Dimension.
In Liebfrauen liegen verschiedene Motive und kleine Schriftzüge mit christlichem Bezug zur Auswahl bereit. Antje Salg entscheidet sich für das Wort „Agape“, also die selbstlose, nicht sinnliche Liebe. „Wenn das so wäre, dass wir alle unsere Mitmenschen lieben und auch jeder und jede sich selbst, dann würde es uns allen besser gehen“, betont sie. Es ist bereits ihre vierte Tätowierung und ihr geht es um „Erinnerungen, die ich nicht nur im Kopf trage, sondern nach außen zeige“. Auch, wenn das Stechen des Schriftzugs teils schmerzhaft ist, würde sie es jederzeit wieder machen, sagt sie, als ihr neuer Körperschmuck zum Heilen mit Klarsichtfolie umwickelt wird, „denn das hier, in dieser phantastischen Atmosphäre der Kirche ist wirklich ein ergreifendes Erlebnis“.
Yvonne Schwarz und Maximilian Stadler sind extra schon am Tag zuvor aus der Nähe von München angereist, um dieses besondere Erlebnis auch zu haben. Für das junge Paar ist es jeweils nicht die erste Tätowierung. Er lässt sich das Wort „Faith“ stechen, zu Deutsch Glaube, sie trägt nun ein „Angel“ (Engel) auf ihrem Arm. Der Glaube ist den beiden jungen Leuten wichtig und auch die Verbindung mit etwas, das größer ist als man selbst. Die Tätowierungen sind quasi „Liebe, die unter die Haut geht“, betont die 23-Jährige.

David Beck ist bei der Stadtpolizei tätig. Daher hat er sich extra zuvor vergewissert, ob ein sichtbares Tattoo für den Dienstgeber in Ordnung ist und dieser gab grünes Licht. Jetzt ziert die rechte Hand des Polizisten der kleine, schwarze Schriftzug „Josua 1:9“. Welche Stärke der sportliche Mann daraus schöpft und wie glücklich er mit diesem Zeichen ist, spürt man, als er die Bibelstelle laut und mit kraftvoller Stimme zitiert. „Sei mutig und entschlossen! Lass dich nicht einschüchtern und hab keine Angst! Denn ich, der Herr, dein Gott, stehe dir bei, wohin du auch gehst“. Bei seiner Arbeit gibt es immer wieder herausfordernde Situationen und am Morgen weiß man nicht, ob man am Abend gesund nach Hause kommt, erklärt der Polizist die Auswahl des Zitats. Jetzt gibt ihm die Tätowierung tiefe Zuversicht.
Viele unterschiedliche Menschen kommen an diesem Wochenende in die Liebfrauenkirche, um sich tätowieren zu lassen. Junge Leute und Senioren, Frauen und Männer, tief religiös verwurzelte Menschen und auch die, die sich in kirchlichen Institutionen nicht zu Hause fühlen.
Der Initiator Dr. Markus Breuer, Leiter der KEB Frankfurt freut sich über den Andrang: „Die Suche nach Spiritualität wollen wir aufgreifen, ganz bewusst auch mit dem Gedanken, einmal etwas Atypisches außerhalb ausgetretener kirchlicher Wege und Aktionen zu machen: etwas, was irritiert und nicht mit Klischees daherkommt“.
Bereits im Herbst 2021 hatten die KEB und das Citykloster Liebfrauen zum ersten Live-Tattoo-Walk-In in die lichtdurchflutete Kirche eingeladen. Die Resonanz war überwältigend. Aus dem gesamten Bundesgebiet reisten Menschen, teils ganze Familien an, um sich in der besonderen Atmosphäre ein kostenloses Tattoo stechen zu lassen. „Leider konnten wir im vergangenen Jahr nicht allen Anfragen gerecht werden, da der Zeitraum der Aktion begrenzt ist. Silas Becks hätte sonst bis Weihnachten seine Nadel in der Kirche surren lassen“, so Breuer. In diesem Jahr wurden daher vorab feste Termine vergeben, um den Andrang zu koordinieren und zu kanalisieren. Innerhalb von nur sechs Stunden waren sämtliche verfügbare Tattoo-Termine ausgebucht. Breuer sieht daher das Tun der KEB Frankfurt bestärkt: „Zeitgemäß wollen wir den Menschen begegnen – auf Augenhöhe, mit echtem Interesse und mit dem Wissen, dass Spiritualität viele individuelle Ausdruckformen hat.“
Die Tattoo-Aktion soll auch im kommenden Jahr weitergeführt werden. Wann und in welcher Form, will Breuer noch nicht verraten. „Aber wer der KEB Frankfurt in Social Media auf Facebook oder Instagram folgt, ist mit Sicherheit rechtzeitig informiert“.
Bildergalerie
Das Tätowieren ist eine uralte christliche Tradition, es gibt sie sogar länger als die tridentinische Messe. Im Mittelalter versuchten die Franziskaner die Leiden Christi erfahrbar zu machen – auch mit Tätowierungen. Zudem findet man in vielen Pilgerberichten Erzählungen darüber, dass in Jerusalem, Santiago de Compostela und weiteren Pilgerorten insbesondere Franziskaner die Wallfahrer tätowiert haben. Es gab seinerzeit kein Stempelheft, um seine Pilgerfahrt zu dokumentieren. Vor hunderten von Jahren zeigte man seinen Arm, seine Hand vor um darauf einen Stempel zu bekommen, oder eben direkt etwas Bleibendes: ein Tattoo. Auch einige Kreuzzügler tätowierten sich, um christliche Zeichen an sich zu tragen. Zu der damaligen Zeit hatte man eben keine Ausweispapiere bei sich und der eigene Körper war das stabilste Medium, um sein Christsein zu dokumentieren. Koptische Christen stechen bis heute ein Kreuz unter die Haut – am rechten Handgelenk oder auf dem Handrücken. Alternativ gibt es vier Kreuzpunkte an der Fingerwurzel. Gerade in muslimisch geprägten Gesellschaften galt ein christliches Zeichen unter der Haut über Jahrhunderte als bleibendes Erkennungszeichen.
Heute sind die bunten Bilder, monochromen Symbole oder geschwungenen Linien längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Jede vierte Bundesbürgerin ist tätowiert. Bei der Altersklasse zwischen 25 und 45 Jahren ist es sogar knapp jede zweite. Darunter sind selbstverständlich auch viele Menschen, die sich selbst als religiös oder insbesondere christlich bezeichnen. Sie leben nun einmal nicht isoliert von einer Gesellschaft, in der die Hautbilder eine Selbstverständlichkeit und ein modernes Zeichen der individuellen Geschichte sind.