WIESBADEN, 30.06.2023
„Das menschliche Gespräch ist unverzichtbar“
Die Telefonseelsorge Mainz-Wiesbaden feiert ihr 50 jähriges Bestehen: Was bedeutet das für Sie?
Christopher Linden: Das ist mit viel Stolz verbunden! Wir sind eine ökumenische Einrichtung mit einem besonderen und ungewöhnlichen Konstrukt, in den siebziger Jahren von vier Trägern gegründet: den katholischen Bistümern Limburg und Mainz und den evangelischen Dekanaten in den beiden Städten. Angefangen hat es mit hauptamtlichem Personal, nach und nach wurde das ehrenamtliche Engagement aufgebaut bis hin zu einer Gruppe von 80 Ehrenamtlichen, die wir auch heute noch haben. Dass dieses Konstrukt 50 Jahre alt geworden ist und eigentlich in der gleichen Weise immer noch für kranke, für einsame, für suizidale Menschen ganz niederschwellig bereit steht, ist das eine. Zugleich hat es in dieser Zeit eine enorme Entwicklung in der Kommunikationstechnik gegeben, die wir mitgemacht haben: Wir mussten natürlich dran bleiben und immer wieder nachsteuern. Auch in Sachen Datenschutz ist es erheblich komplizierter geworden. Aber für die Menschen da zu sein rund um die Uhr, das machen wir immer noch genauso. Da bin ich stolz darauf und froh, meinerseits seit 1990 zu diesem Team zu gehören, das die Einrichtung gemeinsam leitet. Wir haben hier keinen Chef, sondern wir müssen kooperieren und das Schiff gemeinsam steuern.
Ein Mensch, ein offenes Ohr, ein Telefon: Wieso ist das weiterhin eine so gute Methode, Menschen zu erreichen, obwohl es ein bisschen altmodisch klingt und sich so einfach anhört?
Christopher Linden: Die Antwort steckt im Grunde schon in dem Wort Zuhören. Das klingt auch einfach nach dem Motto: Das kann doch jeder. Aber das ist nicht so. Die Haltung, wirklich zuzuhören, sich einzulassen und das Gefühl des anderen zu erspüren und mit ihm dafür Worte zu finden, das ist schon eine Art Kunstfertigkeit des Redens und der Kommunikation. Und das ist spürbar am Telefon. Manchmal braucht man jemanden, mit dem man sprechen kann und von dem man sich akzeptiert und verstanden fühlt. Schon warmherziges Zuhören kann das ausdrücken. Wenn ein Konflikt, die Verzweiflung oder eine Sehnsucht beschrieben wird, und der Mensch am Telefon sieht die Not: Das tut einfach gut. Ich nenne mal als Beispiel einen Eltern-Kind-Konflikt. Den gibt es auch noch bei einer 50-Jährigen, die sich von ihrer 80-jährigen Mutter lebenslang nicht verstanden fühlt. Sie ruft an, schildert ihre Situation und erfährt Verständnis für ihre Perspektive. Die Seelsorgerin am anderen Ende des Hörers fragt nach ihr und rechtfertigt nicht die Mutter, redet nicht lösungsorientiert, sondern schaut nach dem Gefühl und dem Bedürfnis der Anruferin. Da kann einem das Herz aufgehen!
Wer ruft bei der Telefonseelsorge an?
Christopher Linden: Wir haben im vergangenen Jahr rund 13 000 Anrufe gehabt, wobei darunter Menschen sind, die mehrfach anrufen. Das ist ziemlich konstant geblieben: Bereits in den siebziger Jahren waren die Anrufe bei rund 12000 im Jahr. Das ist insofern bemerkenswert, als damals noch nicht mal jeder Haushalt ein Telefon hatte. Und wenn, hing das im Flur und es war nicht gerade einfach, vertraulich zu telefonieren. Als Anfang der 90iger die Handys dazu kamen, schnellte die Zahl erst einmal deutlich hoch. Heute hat fast jeder ein mobiles Telefon und wir bekommen sogar Anrufe aus der S-Bahn. Ein Gespräch dauert im Schnitt 20 Minuten. Wenn ich dann auflege, meine Statistik mache, mich ein wenig erhole und wieder freischalte, klingelt es meist sofort wieder. Nach wie vor sind es etwa zwei Drittel Frauen, ein Drittel Männer, die anrufen. Auch das ist recht konstant geblieben über all die Jahre. 80 Prozent bleiben anonym. Die Altersgruppe zwischen 40 und 65 ist am stärksten vertreten. Wir rechnen damit, dass die Zahl der Älteren in Zukunft zunehmen wird, weil immer mehr Menschen mit dem Telefon groß geworden sind. Junge Menschen rufen meist erst beim Kinder- und Jugendtelefon an. Das ist aber nicht rund um die Uhr besetzt, so dass auch dort auf uns verwiesen wird. Ab Mitte 25 nimmt die Zahl zu, weil junge Leute rund um Studium, Berufsfindung, Ausbildung viele Krisen erleben.
Die Telefonseelsorge hat demnach weiterhin quer durch alle Altersgruppen in der Öffentlichkeit einen hohen Bekanntheitsgrad?
Christopher Linden: Das stellen wir immer wieder fest. Die Telefonseelsorge ist tatsächlich ein Markenbegriff in den Köpfen der Menschen, unabhängig davon, ob sie wissen, dass das eine kirchliche Einrichtung ist. Marktanalysen haben das bereits mehrfach bestätigt. Auch in den neuen Bundesländern hat das funktioniert, wo sie nach der Wende eingeführt worden ist. In den Medien ist es ja so, dass kaum eine Meldung über einen Suizid-Fall, ein Unglück oder eine Katastrophe endet ohne einen Verweis auf die Telefonseelsorge. Das trägt enorm dazu bei, dass die Leute uns kennen.
Haben sich die Sorgen und Anliegen der Menschen seit den Anfängen geändert?
Christopher Linden: Auch das ist relativ konstant geblieben. Vorrangig geht es um Einsamkeit, Beziehungen, psychische und physische Krankheiten. Das verwundert letztlich nicht. Es ist zeitlos, unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen und Entwicklungen, das Menschen krank werden, Trennungen erleben, Verlust durch Tod oder einsam sind. Natürlich gibt es darin Unterschiede und auch Sorgen, die mit der Arbeit und dem Alltag zu tun haben. In der Corona-Zeit hatten wir zehn Prozent mehr Anrufe, weil der Angstlevel generell gestiegen war. Menschen, die eh zu Angst neigen, für die war das noch mal bedrohlicher. Genauso ist es auch mit dem Krieg in der Ukraine und der Inflation. Existenzsorgen und Zukunftsängste kommen in den Gesprächen vor.
Überall werden Ehrenamtliche gesucht – wie kommt es, dass sich für die Telefonseelsorge offenbar immer wieder Interessenten finden?
Christopher Linden: Es gibt eine Mund-zu-Mund-Propaganda, auch zu der guten Ausbildung, die wir anbieten. Zugute kommt uns die Entwicklung der Freiwilligenbörsen, die es in jeder Stadt gibt, darüber werden wir zum Beispiel gefunden. Wir informieren ausführlich auf unserer Homepage, machen immer wieder Aktionen, um auf uns aufmerksam zu machen. Menschen, die sich für Kommunikation interessieren, kommen aktiv auf uns zu. Wir treffen allerdings eine gewisse Vorauswahl, weil nicht jeder, der nach eigener Einschätzung gut telefonieren kann, weiß, was das hier bedeutet. Die Ehrenamtlichen, die wir dazu befähigen, sind ihrerseits auf einem Lernweg, der sie selbst verändert und der über Jahre weitergeht. Wir haben eine durchschnittliche Mitgliedschaft von acht bis neun Jahren – das heißt, es gibt auch Engagierte, die bis zu 20 Jahren dabei sind. Und all diese Leute sind bereit, viel Zeit zu investieren, ganz abgesehen von der inhaltlichen Herausforderung. Schließlich rufen Menschen mit vielen Problemen an, auch welche in absoluter Krise, zuweilen in suizidaler. Darauf müssen die Ehrenamtlichen vorbereitet sein und ein standing haben, um da mitzugehen. Das ist fast ein professioneller Anspruch.
Warum macht man das?
Christopher Linden: Ich kann nur für mich sprechen: Weil ich eine Affinität zu Beziehung habe, zu Kommunikation, zum Verstehen-Wollen. Das gelingende Gespräch fasziniert mich. Wenn Verständigung passiert. Im menschlichen Sinne spannend ist auch, dass man beim Klingeln noch nicht weiß, wer dran ist. Als Hauptamtlicher bin ich zudem viel für die Ehrenamtlichen da. Man lernt sie in der Ausbildung gut kennen, sieht sie später in der Supervision, bekommt Persönliches von ihnen mit und erlebt ihre Entwicklung. Das ist hochspannend und befriedigend. Es ist etwas Großartiges, Leute bei diesem Engagement zu begleiten!
Was bieten Sie Hilfesuchenden über ein Telefonat hinaus an?
Christopher Linden: In beiden Städten kann man auch zu einem persönlichen Gespräch kommen. Wir bemühen uns dabei nach wie vor, Erstgespräche schnell zu machen, ohne Warteliste, um dann gemeinsam zu schauen, was an Hilfe und Unterstützung gebraucht wird. Seit über 25 Jahren hat die Telefonseelsorge in Deutschland darüber hinaus eine Online-Arbeit aufgebaut mit Mail und Chat. Das funktioniert in einem datenschutzrechtlich gut geschützten Rahmen. Bei beiden Formen ist die Nachfrage viel höher als das, was bedient werden kann. Es ist noch niedrigschwelliger, noch anonymer und oft sind die Probleme noch komplexer. Das wird bundesweit organisiert, von unserer Einrichtung aus steigen wir erst demnächst wieder ein. Dafür müssen die Ehrenamtlichen extra ausgebildet, geschult und begleitet werden.
Wie geht´s in Zukunft weiter für die Telefonseelsorge Mainz-Wiesbaden?
Christopher Linden: Themen wie Datenschutz, Internet, schnelle Verbindungen werden weiter eine Rolle spielen. Es ist eine bundesweite Aufgabe unserer Gremien, dafür zu sorgen, dass unsere Infrastruktur gut und sicher ist für die Ratsuchenden. Was uns viel mehr Sorge macht, ist, dass die Kirchen kleiner werden in ihrer Ausstattung und ihren Möglichkeiten: Wie lange werden sie Telefonseelsorge noch finanzieren und vorhalten können? Das ist dann eine spannende Frage an die Gesellschaft. Bislang haben wir keine Finanzierung von staatlicher Seite, abgesehen von Sondermitteln für Projekte gibt es keine stabilen Zusagen. Gleichzeitig machen die chronisch und psychisch erkrankten Menschen, die hier anrufen, fast 50 Prozent unserer Klientel aus. Die rufen hier an, weil sie in einer Krise sind und es nachts und am Wochenende niemanden außer uns gibt. Darüber hinaus ist manche Entwicklung nicht absehbar. Es gibt ja schon genug Witze darüber, wie man psychologisch auch von künstlicher Intelligenz beraten werden kann. Mein Ding ist das nicht: Ich halte das menschliche Gespräch weiterhin für unverzichtbar und durch nichts zu ersetzen!
Die Fragen stellte Barbara Reichwein.