WIESBADEN, 12.03.2023
Wenn Polizeischutz zum Alltag gehört
Der Philosoph, Publizist und Jurist Prof. Michel Friedman hat sich bei der Eröffnung der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit in Wiesbaden am Sonntag, 12. März einmal mehr als streitbarer, kritischer und höchst eloquenter Redner erwiesen. Seine Ansprache begann er mit einer „Bemerkung des immer noch nicht Bearbeiteten“ und konfrontierte auch im Folgenden die Zuhörerschaft mit unbequemen Ansagen und dringlichen Forderungen. Wenn nach der ursprünglichen Wurzel des Antisemitismus gefragt werde, so sein Einstieg, gebe es eine klare Antwort: das Christentum. Es habe den Judenhass legitimiert und in die Welt getragen. Dass die Juden Gottes Sohn ermordet hätten, sei die globalste und erfolgreichste Lüge der Welt, sagte Friedman im bis auf den letzten Platz gefüllten Musiksaal des Hessischen Landtages.
Eine unabgeschlossene Aufgabe
Begrüßt hatte die Gäste dort vorab Lothar Breidenstein, einer der drei Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Wiesbaden (GCJZ). Dass die Veranstaltung in den Räumen des Landtags verankert sei, sei nicht nur ein Zeichen der Wertschätzung der GCJZ gegenüber, sondern zeige auch, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus zum Selbstverständnis unseres Gemeinwesens unbedingt dazugehöre. Es sei eine unabgeschlossene Aufgabe in einer Zeit, in der auch nationalistische Kräfte wieder Einzug gehalten hätten in die Parlamente und Antisemitismus im Gewand sogenannter Israelkritik sein Haupt erhebe. Im Blick auf das 75-jährige Bestehen der GCJZ verwies Breidenstein auf „unrühmliche und beschämende Episoden“ in den Anfängen der Gesellschaft, in denen vor allem Versöhnungserwartungen erfüllt werden sollten. Es sei ein weiter Weg gewesen, sich für die eigentliche Aufgabe frei zu machen.
Eine Ehre für den Landtag
„Es ist eine Ehre für uns, dass diese Veranstaltung seit 1974 immer wieder im Hessischen Landtag stattfindet“, sagte der Vizepräsident des Hessischen Landtages, Dr. Jörg-Uwe Hahn, der ausdrücklich dafür dankte, dass die Gesellschaft bereits seit den 50er Jahren das Thema Holocaust auf die Tagesordnung gesetzt habe, auch gegen erhebliche Widerstände. Hahn verband sein Grußwort mit einer deutlichen Empfehlung, Israel zu besuchen. Wie er berichtete, hat der Hessische Landtag aktuell beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die sich ausschließlich mit dem Kontakt zu Israel beschäftigen wird.

In Anlehnung an Martin Luther King beschrieb Dr. Jacob Gutmark, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinden in Hessen, in seinem Grußwort einen Traum – in dem Juden sich nicht mehr ständig rechtfertigen und jüdische Einrichtungen nicht mehr von der Polizei geschützt werden müssten. „Und in dem wir Juden nicht mehr als identitätsstiftendes Feindbild zur Verfügung stehen.“ Für die christlichen Kirchen sprach auch im Namen von Stadtdekan Klaus Nebel, der ebenfalls unter den Gästen war, der evangelische Dekan Dr. Martin Mencke ein Grußwort.
Religiösen Antijudaismus mitdenken
Wenn vom „christlichen Abendland“ gesprochen werde, müsse der religiöse Antijudaismus mitgedacht werden, forderte Prof. Friedman in seiner Festansprache. Die Selbstverständlichkeit der Behauptung, „wer Jesus umgebracht hat“, die Legitimation dieser "Erinnerung", sei auch von der weltlichen Macht übernommen worden, über Jahrhunderte. Sowohl die religiöse wie die weltliche Macht hätten in einer Weise kooperiert, wo sie sich in einem einig waren: „Am Ende gab es den Sündenbock, der zahlen sollte: der Jude.“ Er stelle das bewusst an den Anfang seiner Einlassungen, „weil es sich leicht vergisst.“ Das Zweite Vatikanische Konzil, das mit dieser fake-news aufgeräumt habe, sei nicht einmal eine Sekunde im Vergleich zu der Zeit, wo man dieses erzählte und umsetzte. „Man musste, man durfte sich an Juden rächen.“
Menschenrechte sind nicht abstimmungsfähig
Menschenrechte seien nicht abstimmungsfähig, sagte Friedman, dessen Vortrag mit dem Thema der bundesweiten Woche der Brüderlichkeit überschrieben war: „Öffnet Tore der Gerechtigkeit – Freiheit Macht Verantwortung.“ Eindrücklich forderte er dazu auf, diejenigen, die anderen Menschenrechte aberkennen wollten, in ihre Grenzen zu setzen. Und diejenigen, bei denen dies versucht werde, in Solidarität zu begleiten. „Aber bitte nicht, weil wir an der Seite unserer jüdischen Brüder und Schwestern sind!“ ,fügte er mit ironischem Unterton hinzu. Wer für das Recht kämpfe, Rechte zu haben, „steht an seiner eigenen Seite.“
Es wird zu wenig widersprochen
In unserem Land gebe es Kräfte, die sagten „Einige sind niemand“, eine Partei des Hasses, zu deren Programm das gehöre, die in allen Landtagen sitze und von Millionen Menschen gewählt werde. „Mit wie vielen davon sind Sie in Kontakt?“ fragte der Redner. „Wann haben Sie den letzten Juden-, Frauen- oder N-Witz gehört? Und haben Sie widersprochen?“ Alle Feiern wie diese hätten überhaupt keinen Sinn, wenn nicht jeden Tag Millionen Mal das, was hier diskutiert werde, im im Alltag umgesetzt werde. Das erfordere keinen Mut, wie oft behauptet, sondern stattdessen die Überwindung von Opportunismus und Bequemlichkeit. „Es wird sehr wenig widersprochen“, monierte Friedman und formulierte den eindringlichen Appell, mit Überzeugung und Energie in den öffentlichen Raum einzutreten und für Gerechtigkeit, für Einschränkung von Macht und für die Freiheit zu kämpfen.
Jüdisches Leben in Hessen ist nicht besser geworden
„Unsere Debatte ist immer noch geprägt von Heuchelei und Doppelmoral.“ Seit 75 Jahren gebe es die die GCJZ, aber das Leben der Juden in Hessen sei nicht besser geworden, konstatierte der Publizist bitter. Jüdisches Leben bedeute für seine Kinder, Polizei mit Maschinenpistolen als eine Art Selbstverständlichkeit zu erleben. Und für die Eltern, ihnen als Begründung sagen zu müssen, dass sie Juden seien und dass Menschen sie deswegen hassten. Das sei eine Frage der Lebensqualität, so Friedman: „Und die ist nicht gut.“ In puncto Erinnerungskultur pochte er abschließend auf einen Perspektivwechsel. Die Opfer sollte man gehört haben müssen, um zu verstehen, was das für ein Leid gebracht hat. Aber um zu lernen, wie und warum es passiert sei, „muss man mit den Tätern und Täterinnen reden.“ Es sei die Grundlage dieses Landes, „dass wir uns erinnern, was war, und uns versprochen haben: Das wird es nicht mehr geben.“ Viel sei über Zeitzeugen geredet worden: „Wir, die wir heute hier sitzen, sind die Zeugen unserer Zeit.“
