MARIENTHAL, 01.05.2023
Gnadenbild ist kein Screenshot des Augenblicks
Seit 150 Jahren sorgen sich die Franziskaner um die Wallfahrt in Marienthal im Rheingau. Dieses Jubiläum wird in diesem Jahr gefeiert. Zu Beginn der Wallfahrtszeit am 1. Mai war Bischof Dr. Georg Bätzing in Marienthal zu Gast. Er feierte mit hunderten Gläubigen Gottesdienst und dankte den Franziskaner für ihren Einsatz in der Begleitung von Pilgern, für ihre Gastfreundschaft und ihre Sorge um Flüchtlinge. „Feiern Sie das Festjahr als Bestärkung Ihres Dienstes hier am Ort. Es ist gut, dass Sie hier sind“, rief der Bischof den Brüdern zu.
Eine Sehschule für das Leben
In seiner Predigt wies der Bischof darauf hin, dass die Wallfahrt nach Marienthal zu einer Sehschule für das Leben werden kann. „Ist Ihnen einmal aufgefallen, wie klein das Gnadenbild von Marienthal ist? Eigentlich viel zu klein für unsere heutigen Verhältnisse einer Welt, die auf Bilder setzt und große Bühnen, Bildschirme und Leinwände schätzt“, sagte der Bischof. Die Größe des Gnadenbildes habe einen Grund. Sie seien oft aus kleinen Wurzeln der privaten Verehrung einzelner Menschen entstanden und von Menschen getragen worden, die zu den einfachen Bevölkerungsschichten gehörten. Aus kleinen Gebetsstätten hätten sich dann vielerorts große Wallfahrtsstätten entwickelt, wie in Marienthal seit den ersten Anfängen einer Verehrung zu Beginn des 14. Jahrhunderts. „Mancherorts hat man dann später das kleine Wallfahrtsbild durch ein größeres ersetzt. Hier – Gott sei Dank – nicht. Denn ich finde, die Mühe des genauen Hinsehens hat doch etwas. Und zu wissen: Dieses Bild betrachten Menschen in ihren Sorgen und Freuden nun schon mehr als 700 Jahre – und so viele haben hier Trost und Kraft gefunden, das finde ich unglaublich wertvoll“, so Bätzing.
Im Gnadenbild liegt Ruhe und Ausgeglichenheit
Das Gnadenbild von Marienthal sei eines der frühesten sogenannten Vesperbilder. Es zeige eine Szene am Abend des Karfreitags: Der Leichnam Jesu sei vom Kreuz abgenommen und Maria trage ihn in ihrem Schoß. Wer sich das Bild genau anschaue, der erkenne, dass die Proportionen nicht stimmten. Der Leichnam sei viel zu klein dargestellt, denn die Mutter halte es ja in den Armen. „Das Bild strahlt nicht den Schrecken, die Bestürzung und Verzweiflung dieses Geschehens aus, im Gegenteil. Auch wenn der Leichnam alle Anzeichen der Folter und des vergangenen Schmerzes an sich trägt, über dem Gesicht Christi – und vor allem dem der Mutter – liegt eine Ruhe und Ausgeglichenheit, die überspringt“, erklärte der Bischof. Die Gottesmutter wirke vornehm wie eine königliche Frau. Mit ihrer rechten Hand hebe sie den Kopf des Leichnams so, als wolle sie sagen: Schaut alle hin. Hier ist der Heiland und Erlöser. Es ist vollbracht. Das Leiden geht über in die Herrlichkeit von Ostern.
Genau hinschauen lohnt sich
„Genau hinschauen lohnt sich also. Denn das Gnadenbild ist kein Screenshot des Augenblicks. Es ist eine Predigt und tiefe Auslegung dessen, was da geschehen ist am Karfreitag. Und welche Kraft daraus erwächst, sich mit dem Leben, dem Leiden und Sterben Jesu für uns einverstanden zu erklären“, sagte Bätzing. Das gebe Ruhe und Zuversicht auch für die eigenen schwierigen Lebenssituationen. Der Mensch sei aufgehoben. Gottes Sohn sei den Weg des Leidens für die Menschen gegangen, damit sie mit ihm zusammen Lebenswege gestalten.
Der erste Blick genügt oft nicht
Es lohne sich im Glauben und im Leben immer, genauer hinzuschauen. „Der erste Blick genügt oft nicht; man muss schon genauer hinsehen, um sich wirklich ein Urteil zu bilden: Ich finde, dem sollten sich gläubige Menschen verpflichtet sehen“, so der Bischof. Man dürfe sich nicht gleich beim ersten Augenschein ein Urteil bilden. Man werde der Wirklichkeit und der Verantwortung gewiss besser gerecht, wenn man das, was um einen herum in der großen und kleinen Welt, genauer betrachte, darüber nachdächte, es zu verstehen versuche und tiefere Einsichten gewinnen wolle. Vor allem aber gelte es, sich niemals den Parolen der Claqueure leichtfertig anzuschließen, die vorgäben, ganz schwierige Fragen einfach lösen zu können. Schwierige Fragen gebe es genug. Solche um Flucht und Migration; Klima und Schöpfungsverantwortung, Zusammenhalt der Gesellschaft, die drohende Gefährdung der Demokratie oder die schwierige Lage in der Kirche.
Gott nicht einfach abschreiben
Wer ganz genau auf das Gnadenbild von Marienthal schaue, der könne den vertieften Blick auch im Alltag besser üben. Der fälle nicht schon nach dem ersten Eindruck ein Urteil über andere Menschen und der beurteile schwierige politische Fragen auch nicht nach dem ersten Hören. „Ich möchte Gott nicht einfach ‚abschreiben‘, wenn er manchmal auch schwer zu verstehen und nur mühsam im Alltag zu entdecken ist. Und ich möchte die Kirche auf ihrem schwierigen Weg durch die Zeit, mit ihren eindeutigen Schwächen und Makeln nicht aufgeben – sondern weiter geduldig und zuversichtlich mit ihr gehen“, sagte Bätzing. Maria, die königliche Frau und Schwester der Menschen, möge den Menschen lehren, aufmerksam zu sein für das Kleine, das Einfache in der Welt, das so leicht übersehen oder missverstanden werde. Sie lehre den Menschen, im Kleinen des Lebens den großen Gott am Werk zu sehen, der den Menschen liebe und nie im Stich lasse.
Bildergalerie
Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing im Wortlaut
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Predigt zur Wallfahrtseröffnung in Marienthal