Frankfurt, 06.03.2025
Theater und Religion müssen Fragen wachhalten
Das Erstarken der AfD gefährdet die Kunstfreiheit. Das sagte Marion Tiedtke, Dramaturgin und Professorin für Schauspiel, beim Aschermittwoch der Künstler im Haus am Dom. Unter dem Titel „Spielraum des Sozialen – Zur Schauspielkunst der Gegenwart“ sprach sie unter anderem über politische Zwänge und was das Theater ihnen entgegenzusetzen hat.
„Es ist eine sehr schwierige politische Zeit, nicht nur aufgrund von Sparmaßnahmen in der Kulturpolitik, sondern vor allem durch einen bedrohlicher Wertewandel, der sich in der Gesellschaft breit macht“, so Tiedtke „Wir Theaterschaffende ringen um Freiheit in der Kunst, die zugleich ein Seismograph für die Freiheit der Gesellschaft ist.“
Kunst braucht Inszenierung – und entsprechend erlebten die Gäste im Großen Saal einen wundervoll-intensiven Einstieg in die Welt des Theaters. Joshua Grölz und Pablo Weller de la Torre, beide Schauspielstudierende an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) in Frankfurt, zeigten ein Szenenstudium aus „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf, das sie mit Marc Prätsch erarbeitet haben. Treffend lässige Kostüme, keine Requisiten, lediglich die beiden schwarzen Sessel, die anschließend auch als Setting für das Gespräch zwischen Tiedtke und Joachim Valentin, Direktor des Hauses am Dom dienten – mehr brauchten die beiden jungen Schauspieler nicht, um das Publikum in die Geschichte rund um den rebellischen russischen Spätaussiedler Tschick und seinen Schulkameraden Maik hineinzukatapultieren. Eine emotionsgeladene Aufführung, die vielen gerne noch länger hätte dauern dürfen.
Eindringliches, aber gefährdetes Plädoyer
Und die auch in der anschließenden politischen Einordnung eine Rolle spielte. „,Tschick‘ ist ein eindringliches Plädoyer gegen Klassismus. Ein Szenenstudium mit diesem Jugendslang wäre wahrscheinlich in einer AfD-bestimmten Kulturlandschaft nicht möglich, entspräche es doch nicht einer deutschnationalen Leitkultur und würde als linksversifft gebrandmarkt“, gab Tiedtke zu bedenken. Nicht nur in Ostdeutschland seien solche Töne in Landesparlamenten zu hören, sie verstärkten sich auch in westdeutschen Parlamenten. Dafür hatte die Schauspieldozentin konkrete Beispiele dabei: „In der Öffentlichkeit verbreitet die AfD die pauschale Diffamierung der Kulturinstitutionen und damit auch des Theaters als antisemitisch und links, zum Beispiel im Dezember 2024 das Nationaltheater Mannheim.“ Dieses komme laut Argumentation der Partei seinem kulturellen Auftrag immer weniger nach, werde zunehmend für Propagandazwecke missbraucht. Vorwürfe wie diese müssen ernst genommen werden, denn laut Gesetz unterliegen die öffentlich subventionierten Institutionen einem Neutralitätsgebot. „Aber wo fängt die Neutralität an? Ist die Besetzung einer männlich gelesenen Rolle mit einer Frau schon woke?“, fragte Tiedtke. Die AfD bringe zahlreiche Prüfanträge wie diese in die Landesparlamente ein und erschwere und blockiere dadurch die restliche Arbeit. „Und so beginnt eine Einschüchterung in der Kulturpolitik“, warnt die Dramaturgin: „Haben wir unsere freiheitlichen Kulturinstitutionen erstmal weggespart, werden autoritäre Regierungsmächte sie wieder aufbauen und mit einer Neubesetzung dieser Institutionen ihre Leitkultur durchsetzen. Die Folge: Normative Kunst statt Kunstfreiheit!“
Theater kommentiert kritisch
Was kann dem entgegengesetzt werden? Ihre Antwort: Theater, das kritisch ist! Tiedtke zeigte beim Aschermittwoch der Künstler im Haus am Dom zahlreiche Beispiele von politisch kritischen Inszenierungen, zum Teil mit hochkarätigen Preisen ausgezeichnet. Ihr Gegenmittel gegen normative Kunst: „Wir brauchen dringend Erlebnisräume, in denen wir unseren Gemeinsinn befördern können. Und die Kunst des Schauspiels kann diese Räume geben.“
Im anschließenden Gespräch mit Joachim Valentin wurde deutlich: Das Theater kann natürlich auch keine Antworten geben, die auch der gesellschaftliche Diskurs nicht geben kann. Aber: „Die Qualität des Dialogs ist das, was das Theater ausmacht“, so die Bühnenexpertin.
Zum Aschermittwoch der Künstler lädt traditionell Bischof Georg Bätzing ein. „Ich bin sehr beeindruckt von Ihrer Arbeit und habe von dem, was Sie berichtet haben, sehr profitiert“, sagte Bätzing nach Tiedtkes Vortrag. Besonders sei er hängengeblieben an der Aussage, das Theater sei ein analoger Raum. „Ich glaube, die erste Aufgabe ist nicht, die Antwort zu geben, sondern ein Spiegel zu sein“, sagte der Bischof. Außerdem sah er eine Verbindung von Religion und Theater: „Wir sind in einer nicht ganz unverwandten Situation. Ich frage mich manchmal, ob wir Antworten haben oder eher die Fragen wachhalten müssen als Religion.“ Religiöse Handlungen wie die Liturgie seien stark vom Theater geprägt, auch dabei müssten Rollen gewahrt werden.
Thiedtke antwortete dem Bischof, sie können mit der Bemerkung viel verbinden. Aber: „Wir als Dramaturgen können unseren Wertekanon immer wieder befragen, wir können eingreifen, zum Beispiel durch neue Übersetzungen. Sie haben das in dem Sinne nicht, Sie haben immer die alten tradierten Rituale, die eine besondere Heiligkeit haben.“ Der Moment des Erlebens habe aber in beiden Fällen eine verbindende Ähnlichkeit.
Die Aufführung von „Tschick“ sowie der Vortrag von und das Gespräch mit Marion Tiedtke können unten im Video angeschaut werden.
Nach dem Nachmittag im Haus am Dom hielt Bischof Bätzing noch den Aschermittwochsgottesdienst mit Aschekreuz im Bartholomäusdom. Mit Blick auf die beginnende Fastenzeit sagte er in seiner Predigt: „Fasten ist keine nachträgliche Korrektur für ein zu ausschweifendes Leben. Es ist Vorbereitung auf eine neue Zeit, in der andere Maßstäbe gelten.“ Er lud dazu ein, die Fastenzeit als Chance zu sehen und aktiv zu werden: „Wer mitwirken will an neuen Zeiten, anderen Verhältnissen, gerechteren Zuständen und einer liebenswerten Welt, der und die sind herzlich eingeladen. Jetzt ist die Zeit.“