Eltville
Ein Ort zum Ankommen
In den Weinbergen zwischen Kloster Eberbach und Erbach liegt das Bethanien Kinder- und Jugenddorf Eltville. In den Wohngruppen leben 180 Kinder und Jugendliche im Alter von 4 bis 20 Jahren. Hier wird gelernt, gekocht, getobt, gespielt und musiziert – wie in einer ganz normalen Familie. Doch die jungen Menschen lernen oft erst hier einen normalen Alltag zu leben: Ihre Eltern wollten sie nicht, haben sie missbraucht oder waren einfach überfordert. Ins Bethanien Kinder- und Jugenddorf bringt jede und jeder seine ganz eigene Geschichte mit – an einen Platz, wo Vertrauen wieder wachsen und Gemeinschaft - oft zum ersten Mal - erlebt werden kann.

Damit ein solches Projekt gelingen kann, braucht es zunächst einmal viele Menschen. Gegründet wurde das Kinderdorf im Rheingau vor 60 Jahren von den Dominikanerinnen von Bethanien. Seit vier Jahren gibt es keinen Konvent mehr in Eltville; eine Dominikanerin, Schwester Judith, lebt aber noch im Kinderdorf. Und dann gibt es Kinderdorfleiter Thomas Kunz und sein engagiertes Team aus Erziehern, Psychologen, Verwaltung, Hauswirtschaftskräften, Sozialpädagogen und FSJlern, die rund um die Uhr im Schichtdienst für die Kinder da sind. Die klassische Kinderdorffamilie, in der eine Frau eine Gruppe übernimmt und mit den Kindern lebt, gebe es nicht mehr, so Kunz. Dennoch gehe es familiär zu, alle kennen sich, fügt er hinzu, auch weil die durchschnittliche Verweildauer sechs Jahre beträgt.
Stetig gewachsen
Doch auch wirtschaftlich muss alles passen, um den Standort zu sichern. Die Bethanien Kinderdörfer sind mittlerweile eine gGmbH mit drei Standorten, darunter Eltville. „Man braucht eine gewisse Größe, um überleben zu können“, sagt Kunz. In den letzten zehn Jahren wurden die Plätze in der Jugendhilfe verdreifacht. Im Rheingau wurden zwei Kindertagesstätten eröffnet. Hinzu kommen eine Intensivgruppe, zwei Inobhutnahme- und Clearinggruppen und mehrere Trainingswohnungen – alle in Wiesbaden, im Rheingau und im Hunsrück. Fachkräftemangel ist im Kinderdorf ein Fremdwort. Kurze Entscheidungswege, viele Bewerbungen und ein motiviertes Verwaltungsteam nennt Kunz als Gründe für die guten Zahlen.

Die Nachfrage an Plätzen ist riesig – aus den Umkreisen, aber auch aus Wiesbaden und Frankfurt. Konnten 2012 noch 125 Anfragen der Jugendämter nicht angenommen werden, waren es 2024 rund 550. Nach Corona sind die Zahlen sprunghaft gestiegen.
„Viele Familien haben während Corona eng aufeinander gelebt und die finanziellen Probleme sind größer geworden“, so Schwester Judith. „Das ist eine Entwicklung, die auf ganz Europa übertragbar ist: Die Kinderarmut steigt und die Eltern sind den Herausforderungen nicht mehr gewachsen“, stimmt Stephanie Anthoni, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, zu.
Großer Zusammenhalt
Im Kinderdorf wird nach festen Regeln zusammengelebt, alle übernehmen Verantwortung im Haushalt. Doch es gibt auch viele Freiräume. Auf dem Bauspielplatz mit Kletterwand bauen die Kinder Hütten, die sie selbst gestalten dürfen. Es gibt einen Musikraum mit einer großen Auswahl an Instrumenten, eine Offene Werkstatt, in der gebastelt und getüftelt wird, Fußballtraining und Bogenschießen und einen eigenen Jugendtreff, wo die Älteren ungestört sind. Austoben kann man sich auf einem großen Spielplatz und auf zahlreichen Trampolinen. Fahrräder und Kettcars stehen bereit. „Es ist immer jemand zum Spielen da“, erzählt Anthoni. Natürlich gebe es auch Streit, aber der Zusammenhalt in den Gruppen sei enorm.

„Hast du auch ein Bett hier?“, wird Schwester Judith oft gefragt. „Ich bin hier zu Hause“, sage sie dann. Die 60-Jährige übernahm einmal eine Kinderdorffamilie. So entstanden Bindungen, die bis heute fortbestehen. Mit 40 wurde sie zum ersten Mal Oma. Mittlerweile ist sie neunfache Groß- und zweifache Urgroßmutter, erzählt sie stolz.
Heutzutage sei sie überall dort im Einsatz, wo gerade Unterstützung und jemand zum Anpacken gebraucht werde. Doch vor allem ist sie für die religiösen Angebote zuständig. In der Einrichtung gibt es eine eigene Kinderkirche. „In unseren Gottesdiensten wird das Evangelium immer gespielt, weil unsere Kinder so gerne schauspielern“, erzählt die unternehmungslustige Dominikanerin, die in der Osternacht ein Feuer anzündet, mit den Kindern die Osterkerze selbst bastelt und Bibelaktionen plant. So hat sie mit den Kindern einen riesigen Walfisch für die Kirche gebaut. In den Bauch des Walfisches ziehen sich die kleinen Dorfbewohner gerne zurück, um zu trauern und Kraft zu schöpfen.
Keiner müsse sich von ihr bekehren lassen, ihr gehe es um die Spiritualität, so die Schwester. Dennoch habe es auch schon Kinder gegeben, die getauft werden wollten. Es hätte ihn eigentlich nicht geben dürfen, weil sie ihn habe abtreiben wollen, erfuhr ein Achtjähriger von seiner Mutter, die er zuvor zwei Jahre nicht gesehen hatte. Danach kam er zu Schwester Judith und meinte, er wolle getauft werden: „Ich will zu dem gehören, der stärker ist als meine Mama.“