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FRANKFURT, 11.05.2022

„Eine schlimme Form von Gewalt“

Eine Sprache für alle? Oder doch lieber eine stärkere Förderung von einzelnen Herkunftssprachen? Was ist fairer – und welche Rolle spielt die deutsche Sprache überhaupt noch? Darüber stritten vier Expertinnen und Experten bei der Diskussion „Sprachengerechtigkeit durch Mehrsprachigkeit?“ im Haus am Dom. (Mit Video)

„In Frankfurt haben 70 Prozent der Grundschulkinder Migrationshintergrund – warum tun wir dennoch so, als würden wir von einer kleinen Minderheit sprechen?“ Das fragte Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani, Professor für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück, bei der Diskussion „Sprachengerechtigkeit durch Mehrsprachigkeit?“. Eine einfache Antwort, so viel war klar, kann und wird es darauf nicht geben.

Im Mittelpunkt der von Prof. Joachim Valentin, Direktor des Hauses am Dom, moderierten Diskussion stand die Frage, wie Vielfalt von Sprache ganz konkret gefördert werden kann, während zugleich eine gemeinsame Sprache unbestreitbar wichtig bleibt. Sollten Herkunftssprachen ebenso gefördert werden wie die deutsche Sprache, also auch als Schulfächer und Zusatzqualifikation anerkannt werden? Oder sollten nicht doch vor allem (sehr) gute Deutschkenntnisse aller langfristig in Deutschland Lebenden als oberstes Ziel der Sprachbildung gelten? Und kann zum Beispiel Indien ein Vorbild sein, wo Hindi und Englisch zwar als Amtssprachen gelten, man aber angesichts der Vielfalt gesprochener Sprachen auf eine Nationalsprache verzichtet?

Zwei gegensätzliche Pole

Prof. Dr. Roland Kaehlbrandt, Vorsitzender des Vorstands der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt, steckte zunächst zwei Pole innerhalb der Diskussion ab. Auf der einen Seite gebe es Linguisten, die Englisch als universale Kommunikationssprache ansähen, die dafür sorgen könne, dass in einer globalisierten Welt alle die gleiche Chance haben. Auf der anderen Seite gebe es die Forderung, Sprachen von Sprachminderheiten mehr zu sehen und besser wertzuschätzen. „In diesem Fall bedeutet Gerechtigkeit, dass jeder seine Sprache behalten darf und Anrecht auf Unterricht haben kann“, erläuterte Kaehlbrandt. Das sei in einer Klasse, in der es oft zwölf oder mehr Muttersprachen gebe, praktisch nicht so einfach. Eine Lösung wäre, den Fokus auf Minderheitensprachen zu legen und sie ganz besonders zu fördern. „Und dazwischen steht die deutsche Sprache, die einst lange gebraucht hat, um in unserem Land akzeptiert zu werden – und die heute wieder unter Druck steht, weil an vielen Hochschulen und in Unternehmen nur noch Englisch gesprochen wird.“

Gleichheit der Chancen in sprachlicher Hinsicht müsse der Staat gewähren, unterstrich Kaehlbrandt. Seiner Meinung nach sollten weit verbreitete Sprachen im Bildungssystem besser gefördert werden, während zugleich ganz klar die sichere Vermittlung der Landessprache angestrebt wird. Dabei komme den Lehrerinnen und Lehrern eine wichtige Rolle zu. Das Ziel: „Herkunftssprachsensibler Unterricht“.

Abwertung von Sprachigkeit

Das gefiel Dr. Magdalena Knappik, Gastprofessorin für Grundschuldidaktik, Mehrsprachigkeit und soziale Teilhabe an der Universität Kassel, die ebenfalls mit auf dem Podium saß. Auch wenn die Diskussion sachlich geführt wurde, klang in ihren Berichten immer wieder an, wie verletzend Sprachungerechtigkeit für Betroffenen sein kann. Oft werde über die Herausforderungen gesprochen, die es für Lehrkräfte darstelle, Kinder mit anderen Muttersprachen als Deutsch zu unterrichten, sagte Magdalena Knappik. Viel zu kurz käme dabei die Perspektive der Kinder und Jugendlichen selbst: „Statt in einer ermutigenden Umgebung zu lernen, sind sie häufig mit der Abwertung ihrer Sprachigkeit konfrontiert;  das erleben Kinder bereits in der Kita.“ Schülerinnen und Schüler aufzufordern, im Unterricht und auf dem Pausenhof ihre eigene Sprache nicht zu sprechen und somit einen beträchtlichen Teil ihrer kognitiven und lingualen Ressourcen zu verbieten, sei eine besonders schlimme Form von Gewalt.

Dazu käme, dass zwar bekannt sei, dass das gemeinsame Lernen im Fächerkanon und in der Klasse besonders gut sei; neu hinzugekommene Schüler jedoch in Deutsch-Intensiv-Klassen separiert und somit ausgeschlossen würden. Dort lernten sie vor allem die deutsche Sprache, während viele andere Fächer vernachlässigt würden. „Wenn sie nach zwei Jahren dann in den Regelunterricht kommen, haben sie starke fachliche Rückstände. Diese Ausgliederung einer großen Gruppe aus dem Regelunterricht ist institutioneller Rassismus!“, kritisierte Knappik. Sie forderte außerdem eine Verankerung von sprachlicher Bildung in der Ausbildung hessischer Lehrerinnen und Lehrer. Diese gebe es bereits in vielen anderen Bundesländern.

Eine Imagefrage

Aladin El-Mafaalani wies darauf hin, dass die Diskussion nun überhaupt erst geführt werde, weil Menschen mit internationaler Geschichte immer mehr Teilhabe beanspruchten. Es müsse dringend darüber gesprochen werden, warum manche Sprachen an Schulen unterrichtet würden und andere nicht, forderte er: „Warum lehren wir Englisch, Französisch, Latein, auch Chinesisch und Russisch, aber nicht Türkisch und Arabisch im Unterricht?“ Für Kinder und Jugendliche mit arabischer und türkischer Muttersprache sei das schwer zu verstehen – unterm Strich sei es eine Imagefrage, so El-Mafaalani.  Zugleich unterstrich er die auch von Prof. Kaehlbrandt vertretene Meinung, dass bei einer großen Vielfalt an Sprachen die deutsche Sprache für den Diskurs an Dominanz gewinne: „Irgendwas soll ja noch die Einheit bewahren. In einer superdiversen Gesellschaft kann nur die Nationalsprache von allen gesprochen werden, das ist eine rein zweckrationale Erkenntnis. Mit diesem Argument kann man alle überzeugen, dass die deutsche Sprache wichtig ist.“

Brigitta Sassin, Religionswissenschaftlerin und Theologin, Referentin für Gemeinden anderer Muttersprache und christlich-islamischen Dialog in der katholischen Stadtkirche Frankfurt, brachte die Perspektive der muttersprachlichen Katholikinnen und Katholiken in die Diskussion ein. In Frankfurt feiern katholische Christinnen und Christen in 25 Sprachen Gottesdienst. Sie sagte, Sprachgerechtigkeit bedeute die Anerkennung, dass die Muttersprachen ebenso wertvoll sind wie die Sprachen, die in der Schule unterrichtet würden. Oft würde das Lernen in der Muttersprache von Lehrerinnen und Lehrern jedoch überhaupt nicht miteinbezogen. Das müsse sich ändern, sagte Sassin, und schlug vor: „Wie wäre es an Schulen mit einer AG als anerkannter Zusatz im Zeugnis? So könnte der Erfolg des Lernen in der eigenen Sprache anerkannt werden.“

Strukturelle Unterschiede in den Blick nehmen

Magdalena Knappik räumte ein, dass nicht in jeder Sprache Schulunterricht erteilt werden könne. Doch die strukturellen Unterschiede könnten beseitigt werden, schlug sie vor: „Herkunftssprachenlehrkräfte verdienen schlechter und werden häufig nicht verbeamtet, Herkunftsunterricht findet oft am Nachmittag statt und an Orten, an die man erstmal hinfahren muss, so dass die Lehrkräfte zu Lehrenden des sogenannten Regelunterrichts kaum Kontakt haben. Daran könnte man etwas ändern.“

Ein guter Vorschlag kam aus dem Publikum: Muttersprachlicher Online-Unterricht, so dass jede Sprache berücksichtigt werden kann. Sicher eine Idee, über die es sich lohnt, nachzudenken.

Der Abend war die dritte Veranstaltung der diesjährigen „Hausgespräche“, einer vierteiligen Reihe, an der sich neben dem Haus am Dom auch die Stiftung Polytechnische Gesellschaft, das Jüdische Museum und das Freie Deutsche Hochstift beteiligen. Der letzte Termin der Reihe ist am Mittwoch, 18. Mai, 19.30 bis 21.30 Uhr, im Freien Deutschen Hochstift zum Thema „Sprachgewalt – Sprachgerechtigkeit: Ein Thema der Romantik?“.

Der Abend im Video

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