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DIEZ, 20.12.2023

„Der Berg zog mich magisch an“

Gefängnisse werden von vielen Menschen gemieden. Manfred Jarmer hat mehr als 30 Jahre seines Lebens hier verbracht. Zum 31. Dezember 2023 geht der Katholische Seelsorge an der Justizvollzugsanstalt Diez in den Ruhestand.

Gefängnisse werden von vielen Menschen gemieden. Manfred Jarmer hat mehr als 30 Jahre seines Lebens hier verbracht. Zum 31. Dezember 2023 geht der Katholische Seelsorge an der Justizvollzugsanstalt Diez in den Ruhestand. Im Interview blickt er auf seine Zeit als Gefängnisseelsorger zurück.

Herr Jarmer, Gefängnisse sind eigentlich keine Orte, in die man freiwillig geht. Was hat Sie daran gereizt, Ihren Berufsalltag genau dort zu verbringen?

Meine Großeltern kamen als Vertriebene nach Asperg bei Ludwigsburg in die Diaspora. Wenn dort Katholikinnen und Katholiken am Gottesdienst teilnehmen wollten, dann mussten sie zuerst auf den Hohen Asperg in das „Gefängnis“. Anschließend kamen die Gefangenen und dann der Priester, um den Gottesdienst zu halten. Nach dem Gottesdienst ging zuerst der Priester, dann gingen die Gefangenen und danach erst durften die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher die Kapelle verlassen. So war das Gefängnis immer präsent im Blick über dem Ort und bei der Hochzeit meiner Tante war auch der Ortspfarrer Wiesner anwesend, der später eine Gefängnisseelsorgestelle in einer baden-württembergischen Justizvollzugsanstalt innehatte. Der Berg zog mich magisch an.

Später habe ich dann während eines Praktikums das Leben in einem Gefängnis kennenlernen dürfen und die Unmittelbarkeit erfahren, mit der sich Gefangene mit persönlichen Problemen an eine Gesprächspartnerin oder einen Gesprächspartner wenden. Das hat mich fasziniert.

Welche Rolle haben eine Seelsorgerin oder ein Seelsorger im Gefängnis? Was ist die wichtigste Aufgabe?

Ich unterliege der Schweigepflicht. Dadurch konnte ich in gewisser Weise eine Art „Feuerwehrfunktion“ für die Inhaftierten einnehmen. Ich war unter anderem Ansprechperson für die persönlichen Sorgen und Nöte, Kontaktschwierigkeiten, existentielle Nachrichten, Beziehungsprobleme und die Überbringung von Todesnachrichten.

Gab es jemals Situationen, in denen Sie Angst vor den Inhaftierten hatten?

In der Untersuchungshaft träumte ich einmal, dass ich im Aufzug mit etwa 30 Gottesdienstbesuchern, die ich auf ihre Station zurückbrachte, stecken blieb. Diese Situation hatte im Traum etwas Beklemmendes.

In der Realität gab es einmal einen Konflikt, der nach einem Wortgefecht zu eskalieren drohte. Dabei erlebte ich einen neben mir sitzenden Gefangenen, der sich leicht vor mich beugte, damit mir nichts passiert. Zum Glück konnte der Streitfall mit Worten gelöst werden.

Als Gefängnisseelsorger waren Sie auch Ansprechperson für die Bediensteten der JVA. Wurde dieses Angebot wahrgenommen?

Ja! Es überwogen allerdings die Gefangenenkontakte, doch gab es auch sehr berührende und ans Herz gehende Abschiedssituationen, mit denen sich auch Bedienstete an den Seelsorger wandten.

Die so genannte „Beamtentagung“ in Wiesbaden-Naurod war dabei ein sehr wichtiges Angebot der Katholischen Seelsorge, die die Kontakte in die Beamtenschaft nachhaltig verbesserte und stärkte.

Mit welchen Themen sind die Inhaftierten und die Beschäftigten zu Ihnen gekommen?

Die Themen waren vielfältig. Dabei ging es einmal um Angelegenheiten, die die Haft betreffen, wie Gespräche gegen die Einsamkeit, Probleme in der Haft, Druck von Mitgefangenen oder Depression, die durch die Inhaftierung entstanden sind. Wichtig waren auch Themen, die das soziale Umfeld außerhalb der Haft betreffen, also zum Beispiel der Kontakt zu den Kindern, Probleme mit der Beziehung zur Lebenspartnerin und der Kontakt zur Familie und Angehörigen. Und schließlich ging es auch um ganz alltägliche Themen, wie Arbeit, Freizeitangebote, wie Malkreis oder Gitarrenkurse, und die Ausstattung mit Dingen des täglichen Lebens, wie Radio, Fernsehen oder Tabak. Bei den Beschäftigten ging es vor allem um Abschiedssituationen.

Auch die Vermittlung von Einzelgesprächen an Vollzugshelfer, die sich vorwiegend um Insassen ohne Angehörige kümmern, war eine meiner Aufgaben.

Gibt es ein Erlebnis aus Ihrer Arbeit, das Ihnen in Erinnerung geblieben ist oder das Sie besonders berührt hat?

Ein Gefangener, der sehr betroffen und bedrückt durch die Enge der Haft war, wurde mir von einem Beamten anvertraut. Wir hatten einen Erstkontakt, der zu vielen weiteren Gesprächen führte. Der Mann wurde in den offenen Vollzug verlegt und vor etwa 15 Jahren entlassen. Seitdem bekomme ich von ihm immer wieder im größten Trubel vor Ostern und Weihnachten einen Anruf mit lieben Grüßen.

Was werden Sie nach Ihrem Eintritt in den Ruhestand am meisten am Gefängnis vermissen? Worauf freuen Sie sich aber auch?

Vermissen werde ich die Häufigkeit der Kontakte, die mich manchmal an Grenzen brachte. Gleichzeitig freue ich mich darauf, aufatmen zu können, meine Zeit gestalten zu dürfen und Beziehungen zu Menschen in den Blick zu nehmen, die in den letzten Jahren etwas zu kurz gekommen sind.

Britta Fischer

Redakteurin Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit

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