limburg, 07.07.2023
„Seid nicht gleichgültig!“
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Mehr als 400 Schülerinnen und Schüler aus fünf Schulen haben sich am Mittwoch, 28. Juni, im digitalen Konferenzraum versammelt, um Krystyna Budnicka zu treffen. Die 91-Jährige hat als Kind das Warschauer Ghetto erlebt. Sie ist die einzige Holocaust-Überlebende ihrer Familie. Im Rahmen des Zeitzeugenprojektes des Bistums Limburg spricht Budnicka mit den Schülerinnen und Schülern an diesem Morgen über ihre Erlebnisse während der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten, über Judenverfolgung und gegen das Vergessen.
Versteck im Lüftungsschacht
Krystyna Budnicka wurde am 8. Mai 1932 in Warschau als Hena Kuczer geboren. Sie war das achte Kind einer strenggläubigen jüdischen Familie und hatte sechs Brüder und eine Schwester. Ihr Vater besaß eine kleine Schreinerwerkstatt. Bei Kriegsausbruch war sie erst sieben Jahre alt. Budnicka berichtet den Neunt- und Zehntklässlern vom Leben im Ghetto, das zunehmend gefährlicher wurde und von ihren Brüdern, die zum Schutz vor den Besatzern Verstecke bauten. „Zuerst haben sie Verstecke für Wertsachen gebaut, später dann für Menschen“. In einem Lüftungsschacht verbarg sich die Familie bei Wohnungsdurchsuchungen, bei denen die deutschen Besatzer plünderten und Menschen für den Transport in das Vernichtungslager Treblinka festnahmen. „Wir saßen im Schacht und haben alles gehört; die Schreie, wie Türen aufgebrochen und Schränke durchsucht wurden. Ich hatte Todesangst“, erinnert sich die Zeitzeugin.
Gefühl wie ausgeschaltet: Neun Monate im Bunker
Im Juli 1942 wurden zwei ältere Brüder von Budnicka mit ihren Familien auf offener Straße festgenommen, nach Treblinka abtransportiert und dort ermordet. Neun Monate, von Januar bis September 1943, versteckte Krystyna Budnicka sich mit ihren Eltern, ihren Geschwistern und einer Schwägerin in einem selbstgebauten unterirdischen Bunker im Ghetto. Dort überlebten sie auch den Aufstand im Ghetto, bei dem die deutschen Besatzer einen Großteil aller Gebäude zerstörten und in Brand setzten. Während die älteren Geschwister in dieser Zeit im politischen Wiederstand aktiv waren, fühlte sich die elfjährige Budnicka wie ausgeschaltet. „Ich habe nur auf einer Pritsche gelegen und geträumt, zum Beispiel, dass ich draußen auf einer Wiese bin und Blumen pflücke oder dass ich eine Heldin bin und kämpfe. Dieses Ausschalten hat mir geholfen, die Situation auszuhalten. Dadurch habe ich auch den Hunger weniger stark gespürt“, berichtet die Zeitzeugin.
Als der Bunker Monate später entdeckt wurde, versuchte die Familie über einen Abwasserkanal auf die sogenannte „arische Seite“ zu fliehen. Die meisten Angehörigen von Budnicka konnten sich nicht retten. Sie starben vor Hunger und Erschöpfung oder wurden von den Deutschen ermordet. Nur Budnicka und ihrer Schwägerin ist es gelungen, aus dem Ghetto zu fliehen und sich bei polnischen Familien zu verstecken. Wegen der drohenden Gefahren mussten sie mehrmals ihre Verstecke wechseln. Budnicka fand zuletzt Unterschlupf bei der Familie Budnicki. Im Oktober 1944 wurde sie von Nonnen in ein Waisenhaus unter dem Namen Krystyna Budnicka aufgenommen.
„Ich verurteile böse Taten aber keine Menschen“
Nach dem Krieg machte Budnicka Abitur, studierte Pädagogik an der Katholischen Universität in Lublin und arbeitete als Sonderschullehrerin. Gefragt, ob sie verzeihen könne und wie ihr Verhältnis zu Deutschland sei, antwortet Budnicka: „Ich glaube, dass ich mich mit euch treffe ist ein Beweis, dass ich verzeihe. Ich verurteile böse Taten aber keine Menschen.“ Man dürfe Verbrechen nicht mit einer Nation verbinden, erklärt die Zeitzeugin. „Jetzt haben wir Krieg in der Ukraine. Soll das bedeuten, dass alle Russen böse sind? Nein, nur diejenigen, die böse Taten begehen und diese sollten dafür verurteilt werden.“
Die Zeitzeugin appelliert an die Schülerinnen und Schüler, aufmerksam zu sein und zu handeln, gegenüber Ungerechtigkeit und Diskriminierung, aber auch gegenüber ihren Mitmenschen, wenn es beispielsweise einer Mitschülerin oder einem Mitschüler nicht gut gehe. Budnicka bezieht sich dabei auf das so genannte elfte Gebot, das auf Roman Kent, den ehemaligen Präsidenten des Internationalen Auschwitz-Komitees zurückgeht: Du sollst nicht gleichgültig sein. „Dieses elfte Gebot muss für uns alle gelten“, sagt Krystyna Budnicka, „und das ist meine Botschaft an euch: Seid nicht gleichgültig!“
Seit 1990 engagiert sich Budnicka in der Vereinigung „Kinder des Holocaust“ und spricht über ihre Erlebnisse. „Solange ich erzählen kann, ist es eine Freude und wichtige Aufgabe für mich“, erklärt Budnicka den Schülerinnen und Schülern. „Vielleicht gelingt es uns, in den Herzen Frieden und Liebe zu säen, sodass wir Menschen nicht mehr gleichgültig sind, sondern auf unsere Mitmenschen schauen“.
Krystyna Budnicka ist Ehrenbürgerin der Stadt Warschau.
Hintergrund
Das Zeitzeugenprojekt im Bistum Limburg organisiert seit 2018 Begegnungen zwischen Überlebenden der Shoah und Schülerinnen und Schülern. Ziel ist es, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen, durch die Berichte aufzuklären und die Zuhörerinnen und Zuhörer zu motivieren, sich für eine friedliche Zukunft einzusetzen. Organisiert wird das Zeitzeugenprojekt vom Leistungsbereich Pastoral und Bildung im Bischöflichen Ordinariat Limburg in Kooperation mit dem Maximilian-Kolbe-Werk. Weitere Informationen gibt es online unter https://zeitzeugen.bistumlimburg.de/.