FRANKFURT, 02.10.2023
Verletzliche Worte und eindringliche Lesungen
Worte können uns erstarren lassen und zugleich bewegen. Sie weiten unsere Gedanken, indem sie unseren Blick auf das Leben wie mit einer Lupe konzentrieren. Das zeigte die atmosphärisch dichte Verleihung des SCIVIAS-Literaturpreises am Freitag, 29. September 2023, im Haus am Dom in Frankfurt. Die Preisträgerinnen Sarah Roguschke und Cornelia Manikowsky begeisterten mit Lesungen ihrer prämierten Texte, ebenso wie der österreichische Schriftsteller und Laudator Robert Prosser mit einem freien Vortrag aus seinem jüngsten Roman.
DAS THEMA
Das diesjährige Thema „Zerstören – Die Dinge. Die Sprache. Die Seelen.“ ist eine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg. Dies machten gleich eingangs die Organisatorinnen des Preises, Dr. Lisa Straßberger, Studienleiterin für Literatur bei der Katholischen Akademie Rabanus Maurus (KARM) und Dr. Friederike Lanz, Studienleiterin für kulturelle Bildung bei der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB), deutlich. Angesichts der bestürzenden und schmerzhaften Eindrücke des Krieges passte die Jury die Ausschreibung entsprechend an, nachdem ursprünglich eine andere Überschrift erdacht worden war. Die zum Thema „Zerstören“ mehr als 320 eingesendeten Texte handeln von den Verletzungen, die wir uns gegenseitig zufügen und von den damit verbundenen Schmerzen.
LAUTE ZERBRECHLICHKEIT – ZARTE FRAGMENTE DES MUTS
Eben jene Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens betonte auch Dr. Ralf Stammberger, Leiter des Leistungsbereichs Pastoral und Bildung in seinem Grußwort. „Die Literatur gibt tiefen Einblick in die Auseinandersetzung von Menschen mit dem Leben“ und dies sei katholisch - im Sinne von allumfassend. Prof. Dr. Joachim Valentin, Direktor der KARM, appellierte an die Teilnehmenden im Großen Saal im Haus am Dom, sich „die Zerstörung in unseren Herzen und in unseren Wäldern durch Literatur zu vergegenwärtigen“. Zugleich wertete er die hohe Anzahl von mehr als 320 Einsendungen zum Ausschreibungsthema als Zeichen der Kraft, die der Kultur innewohnt. Dass die Zukunft unserer Gesellschaft, wie wir sie kennen, und der Erhalt der freiheitlich-demokratische Grundordnung ganz existenziell auch von Kunst- und Kulturschaffenden abhängen, betonte Johannes Oberbandscheid, Leiter der KEB.
Dr. Raphaela Brüggenthies, OSR, Priorin und Novizenmeisterin der Abtei St. Hildegard und Schirmherrin des SCIVIAS-Literaturpreises, nahm unter anderem den Mut des Erzählens in den Blick. Der Moment der Wandlung stehe dem lauten Getöse des Zerstörens meist still entgegen. „Doch gerade dann, wenn alles aus den Fugen gerät, auf ewig zerbrochen und verloren scheint, lässt sich (…) die leise Zusage finden: ‚damit du lebst‘“, fasste die Ordensschwester und Autorin trefflich und sensibel zusammen.
Eine Lesung des Jurymitglieds Carolin Callies aus ihrem Gedichtband „teilchenzoo“ brachte die Anwesenden immer wieder zum Schmunzeln, denn der Poetin gelang es, die Gesetze der Materie mit lebhaften und teils auch heiteren Worten zu beschreiben und so einen lyrischen Zugang zu Naturwissenschaften zu ermöglichen.
Eindringliche Dichte
Die Zuhörenden wurden vom anschließenden Vortrag der Zweitplatzierten wie vom Donner gerührt. Eindringlich las Cornelia Manikowsky ihren Beitrag „dass er auf dem Balkon stand“. Über Seiten hinweg, in einem einzigen Satz ohne Punkt, erzählt der Text die Geschichte einer Auslöschung - Kriegstraumata und das Altern ersticken das Leben und die Erinnerung daran. Der Beitrag, der vom Vergessen handelt, rüttelte im Publikum sichtbar die Erinnerung an selbst Gesehenes und Erlebtes wach: die leeren und mit Sicherheitsnadeln hochgesteckten Hosenbeine von Kriegsversehrten aus dem Zweiten Weltkrieg, die unausgesprochenen familiären und gesellschaftlichen Traumata, das hilflose Schweigen und die zugleich allgegenwärtige Angst, die Generationen überdauert, verdichtete die Autorin in ihrer rund zehnminütigen Lesung. Das, was die Hamburgerin beschreibt, rührte manche der Anwesenden zu Tränen, es schreckte auf und spülte verdeckte Beobachtungen, Erfahrungen und Fragen hoch. „Wie wenig man von den Kriegserfahrungen weiß und wie dieses Wenige ausreicht, um auch als Nachgeborene davon geprägt zu werden“, beschreibt Robert Prosser in seiner Laudatio trefflich, was die Zuhörenden durchfährt.
Welch besonderes und anregendes Glück es ist, Literatur nicht nur selbst zu lesen, sondern ihr zu lauschen, zeigte die Lesung der Hauptpreisträgerin Sarah Roguschke. „Die Anfänge“ heißt ihr Text, der eine rätselhafte Erzählung einer Dystopie ist. Jedes Wort machte klar, dass Korrosion und Unheil uns umgeben und unaufhaltsam fortschreiten. Ein toter Fötus, düstere Beobachtungen im sonnigen Málaga und surreale Wendungen des Plots hielten die Zuhörenden in Atem. Das Publikum erlebte die Ambivalenz von Literatur im Live-Vortrag: da waren einerseits die Worte der Autorin, die mit kraftvoller, fester und tiefer Stimme dem Horror der Zerstörung Gestalt gab. Andererseits stand dort am Rednerpult eine junge Frau, die in ihrer Erscheinung fast elfengleich und zerbrechlich wirkte, mit zart raschelndem Chiffonkleid und freundlichem Lächeln. „Die Autorin hat uns in einer verdüsterten Landschaft unserer Gegenwart abgesetzt“, heißt es in der Begründung der Jury. „Melancholie hat die Sicht auf potentielle Anfänge verdeckt, die im fortlaufenden Sprechen doch wieder auftauchen. Wir haben den Hoffnungsfunken im Titel, nach vielen Sackgassen der Zerstörung, am Ende, als Möglichkeit einer Begegnung, wiedergefunden.“
Die Möglichkeit einer Begegnung zeigte auch der österreichische Autor und Laudator Robert Prosser auf. War es der für bundesdeutsche Ohren stets so freundlich klingende, charakteristische Tiroler Dialekt, oder das vitale, offenbar für die Worte brennende Auftreten des Schriftstellers, das in den Bann zog? Beides zeigte er in Perfektion, als er völlig frei und ohne Manuskript, aber mit Inbrunst und raumgreifend aus seinem jüngsten Werk „Verschwinden in Lawinen“ rezitierte. Eben dieses unvermittelte, persönliche Erleben von Kunst machte die SCIVIAS-Preisverleihung zu einem kulturellen Höhepunkt des Jahres im Haus am Dom in Frankfurt.
Die Preisträgerinnen:
Sarah Roguschke, geboren 1987 im Ruhrgebiet, beschreibt sich selbst als Weltenbummlerin, die sich in den USA, auf Bali, in Marokko, Japan oder in Mexiko mit Inspiration aufgeladen hat. 2022 gewann sie den Hauptpreis für Prosa beim Hildesheimer Literaturwettbewerb, außerdem erschien 2022 ein Text von ihr im Zeitlichkeiten-Magazin. Sarah Roguschke ist bei einer Literaturagentur unter Vertrag.
Cornelia Manikowsky, geboren 1961 in Hamburg, studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Psychologie in Hamburg. Sie arbeitete in einem DFG-Forschungsvorhaben zur Geschichte der Geographie, als Lehrbeauftragte für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg und als freie Seminarleiterin für Literatur, Geschichte und Kreatives Schreiben. Seit 1988 veröffentlicht sie in Anthologien, Zeitungen, Zeitschriften und Literaturzeitschriften. Übersetzungen ihrer Arbeiten gibt es ins Französische (Passage & Co, Marseille) und Koreanische (Hommage, Seoul). Für ihre Arbeiten erhielt sie mehrere Preise und Stipendien. Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Hintergrund:
Der SCIVIAS-Literaturpreis ist als einziger katholischer Literaturpreis in Deutschland eine bedeutende Auszeichnung in der Literaturszene und hat sich als Plattform für Schreibende sowie aufstrebende Nachwuchstalente etabliert. In diesem Jahr wurde er bereits zum dritten Mal vergeben. Der alle zwei Jahre stattfindende Wettbewerb zeichnet herausragende literarische Werke aus und würdigt das Schaffen talentierter Autorinnen und Autoren. Initiatoren des Literaturpreises im Bistum Limburg sind die Katholische Erwachsenenbildung (KEB) und die Katholische Akademie Rabanus Maurus (KARM). In diesem Jahr fand zudem erstmalig eine Schreibwerkstatt für junge Autorinnen und Autoren statt.
Eine Anthologie versammelt die 18 besten Einsendungen zum SCIVIAS-Literaturpreis 2023. „Es sind Geschichten, die der Sinnlosigkeit, Ungerechtigkeit, Gnadenlosigkeit und dem Chaos ins Auge blicken“, heißt es dort. Erschienen ist der Band bei Herder (ISBN 978-3-451-03411-4).
Die diesjährige Jury: Carolin Callies, Paul-Henry Campbell, Dr. Friederike Lanz, Robert Prosser und Dr. Lisa Straßberger.