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Frankfurt, 22.03.2024

Noch Hoffnung auf Wunder?

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist katholischer Christ in der Politik und Politiker in der katholischen Kirche. Im Haus am Dom in Frankfurt sprach er nun über Demokratie – und über einen Gesellschaftsbeitrag, den nur die Kirchen leisten können.

Den Kirchen kommt in Zeiten, in denen die Demokratie laut in Frage gestellt wird, eine wichtige Rolle zu. Das sagte Wolfgang Thierse, ehemaliger Bundestagspräsident und SPD-Politiker, am Donnerstagabend im Haus am Dom. Auf Einladung der Katholischen Stadtkirche Frankfurt sprach er mit Britta Baas vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) über „Kirche in der Demokratie – Demokratie in der Kirche?“, einer Veranstaltung zum laufenden Paulskirchen-Jubiläum.

„Je vielfältiger eine Gesellschaft ist, desto weniger ist sie eine Idylle; Vielfalt steckt voller Zumutungen“, so Thierse. „In einer solchen Zeit muss man danach fragen, was uns miteinander verbindet – und Religion liefert den Menschen einen Grund, sich für Gerechtigkeit und Solidarität einzusetzen.“

Wie groß der Beitrag der Kirchen in der Gesellschaft ist, sehe man nicht zuletzt auch in der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung sowie anderer aktueller Studien, zum Beispiel der Bertelsmann Stiftung. „In diesen Studien gibt es erstaunliche Zahlen, die immer wieder auftauchen, nämlich darüber, wie viele Christinnen und Christen sich ehrenamtlich engagieren“, so Thierse. „Dabei fällt auf, dass der Anteil der Engagierten unter den Religiösen deutlich höher ist. Schon das ist ein wesentlicher Beitrag der Religiösen zum Zusammenleben.“

Ignoranz als Gefahr für die Demokratie

Moderatorin Baas stieg in das Gespräch ein mit der Frage, ob die Katholische Kirche der Demokratie helfen könne, die durch zunehmende Ignoranz bedroht werde. Dem hielt Thierse gleich zur Eröffnung entgegen: „Ich bin mir nicht sicher, ob das mit der Ignoranz stimmt. In den letzten Wochen und Monaten sind Hunderttausende auf die Straße gegangen in der Überzeugung, sie müssten unsere Demokratie verteidigen. Ich finde, das ist ein begrüßenswerter Vorgang.“ Angesichts des Angriffs Putins auf die Ukraine hätten Politik und Gesellschaft schnell begreifen müssen, dass Deutschland sich militärisch verteidigen müsse – das sei für viele eine unangenehme Erkenntnis gewesen. Und doch nur ein kleiner Teil der Zeitenwende, die wir gerade erlebten. Krisen wie die Flüchtlingsbewegung, die digitale Transformation, die Herausforderung, die ökologischen Katastrophe zu verhindern: All das sei strapaziös. „Die Sehnsucht nach schnellen Lösungen und einfachen Antworten ist nachvollziehbar, denn man hat das Gefühl, dass alles unendlich langsam zugeht und alles mit ermüdendem Streit verbunden ist.“ Die gemütlichen Zeiten, in denen die Menschen in der DDR mit Neid auf Westdeutschland und seine guten Bedingungen geschaut hätten, seien vorbei, nun schlage die Stunde der Vereinfacher und Schuldzuweiser: „Es gibt eine ganze Reihe von Gefährdungen, denen wir uns stellen müssen, und da hilft Schönreden nicht“, so Thierse.

Das gilt gleichsam für die Kirche. Der SPD-Politiker, Jahrgang 1943, kennt die Perspektive eines katholischen Christen in der Politik aus der Innenperspektive. Er sagt: „Ich habe nicht die gleichen Erwartungen an meine Kirche, wie ich sie an die Demokratie habe. Die Legitimation der Kirche basiert nicht auf der Demokratie, deshalb verlange ich von ihr nicht, demokratisch zu sein.“ Viele in der Gesellschaft hätten die Erwartung an die katholische Kirche, mehr Demokratie zuzulassen, einfach weil das tägliche Leben dann besser funktioniere und die Kirche an Überzeugungskraft gewinnen könne. „Man muss sehen, wie diese Spannung auszuhalten ist, aber ich glaube nicht, dass man der Kirche etwas tut, wenn man sie als moralischen Dienstleister definiert. Moralischer Dienstleister kann sie nur sein, wenn sie zuerst Kirche ist mit einem ihr eigenen Überzeugungskern.“ Er wünsche sich aber schon, dass die Bischöfe sich verbindlicher beraten ließen. Angesprochen auf den synodalen Prozess in Deutschland sagte der Bundestagspräsident a.D., er begleite diesen mit viel Sympathie, aber nicht mit Hoffnung auf Wunder: „Demokratische Prozesse sind immer mit Enttäuschungen verbunden.“

Ein behäbiger Tanker

Anfang 2019 gehörte Wolfgang Thierse zu den Mitautoren eines offenen Briefs an Kardinal Reinhard Marx, damals Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), in dem mutigere Reformen in der Kirche gefordert wurden. „Darin haben Sie geschrieben, der Kirche täte es gut, Entscheidungen anders zu treffen, um Machtmissbrauch zu verhindern“, fasste Baas zusammen. Thierse stimmte zu, warnte aber auch vor Ungeduld. „Es gibt in der Geschichte unterschiedliche Tempi – die SPD zum Beispiel ist wie ein großer Tanker, der sich schwer bewegen lässt. Und das gilt auch für die Kirche, besonders für die Weltkirche, die ist noch langsamer.“ Das heiße nicht, dass man nicht weiter an Reformen arbeite. „Aber ich erlaube mir eine Art von revolutionärer Geduld, denn ich habe Verständnis dafür, dass es in der Kirche langsamer zugeht.“ Natürlich nehme auch er wahr, dass die Geduld insgesamt abnehme, die Menschen nicht mehr warten wollten – gerade auch angesichts von Missbrauch, der auch in ihm Wut und Enttäuschung auslöse. „Aber ich bin nicht in der Kirche wegen ihres Personals. Meine Treue zur Kirche ist Treue zum Glauben, den ich von meinen Eltern und in Gemeinschaft mit anderen gelernt habe.“

Positiv bewertet Thierse, dass die Öffentlichkeit noch immer Interesse daran habe, was die Kirchen zu aktuellen politischen Themen zu sagen hätten – gemeinsam, ökumenisch, als Orte, in denen Verschiedene miteinander ins Gespräch kommen. In den Kirchen würden die Menschen als Menschen angesprochen, als Hoffende, Liebe, Bangende, Sterbende. „Vielleicht ist das das Wichtigste, was die Kirchen zu dieser Demokratie beitragen: Die Menschen da anzusprechen, wo sie gleich und miteinander im innersten verwandt sind: im Kern ihrer Menschenwürde.“

Das Gespräch mit Wolfgang Thierse wurde auch als Livestream übertragen, das Video ist unten sowie auf dem Youtube-Kanal der Katholischen Stadtkirche abrufbar: https://www.youtube.com/@katholischekirchefrankfurt.

Mit der Veranstaltung möchte die katholische Stadtkirche zum 175-jährigen Jubiläum der Frankfurter Paulskirche eigene Akzente setzen, um in bewegten Zeiten gute Anhaltspunkte für Demokratie zu geben. Bereits zuvor stattgefunden hatte ein Thementag zur Person von Beda Weber – Südtiroler Benediktiner, 1848er, Frankfurter Stadtpfarrer – als geschichtswissenschaftliches Kolloquium an der Uni Frankfurt. Der Abend mit Wolfgang Thierse wurde eingeleitet von einem Impuls zum Forschungsprojekt rund um den Geistlichen, der auch Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung 1848 und 1849 war. Die Einführung wurde gehalten von den Kirchenhistorikern Professor Dr. Matthias Theodor Kloft und Dr. Barbara Wieland.

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